Jung-Feministin Merle Stöver: Provokateurin statt Kanzlerin
Merle Stöver begann mit 17 ihren Weg als Aktivistin und Bloggerin. Gefeierten Feministinnen wirft sie schon mal Antisemitismus vor.
Mit ihrem sonnengelben Kleid und dem hellblonden Kurzhaarschnitt ist sie auch von Weitem gut zu erkennen – ein einziger Farbklecks unter schwarz gekleideten Menschen. Merle Stöver wartet vor einem mit Wimpelketten geschmückten Café am Berliner Ostkreuz. Zuppelt am Saum ihres Kleides. Verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Stöver wirkt unsicher.
Unvorstellbar, wenn man ihren Blog gelesen, ihren Twitter-Account verfolgt, ihre Vorträge bei YouTube gesehen hat. Die 22-jährige Merle Stöver ist Bloggerin und Aktivistin, äußert sich zu Debatten über Feminismus und Antisemitismus. Besonders mit ihrer Position zu Letzterem eckt sie häufig an – gerade innerhalb feministischer, linker Milieus. Denn für Stöver steht fest: Kritik am Staat Israel und Antisemitismus sind nicht zu trennen.
„Israel ist der einzige Staat mit jüdischer Mehrheit“, sagt sie. „Antisemitismus ist jegliche Judenfeindlichkeit, und Antizionismus ist Kritik am Staat Israel.“ Säuberlich zwischen Staatskritik und Judenfeindlichkeit zu unterscheiden hält sie für kaum möglich. „Gegen den Sechstagekrieg und den Jom-Kippur-Krieg gab es zum Beispiel Demonstrationen in Deutschland, die nicht vor der Botschaft abgehalten wurden, sondern vor Synagogen.“ Jede Schwärmerei ist aus ihrer Stimme verschwunden. Online-Stöver nippt an ihrer Rhabarberschorle.
Kritik an Penny und Butler
Auf die Gewalt angesprochen, die vom Staat Israel ausgeht, nickt sie mit dem Kopf. „Israel wurde im Krieg gegründet. Aber dass sich antizionistische Gruppen und Aktivist*innen trotzdem auf ein Rückkehrrecht für Flüchtlinge beziehen, ist Quatsch. Denn die Schuld liegt bei den arabischen Nachbarstaaten, wo die Menschen jetzt in Flüchtlingscamps wohnen, weil sie nicht als Staatsbürger*innen anerkannt werden. Und das werden sie nicht, weil man immer noch davon ausgeht, dass der jüdische Staat irgendwann ausgerottet wird und man zurück in das Heimatland kann.“
Kaum verwunderlich, dass Stöver mit Aussagen wie diesen aneckt. Vor allem, weil sie sich auch nicht scheut, bekannte Feministinnen wie Laurie Penny oder Judith Butler in ihren Antisemitismus-Vorwurf miteinzubeziehen. Weil Merle Stöver sie namentlich in der Ankündigung zu ihrem Vortrag „Antisemitismus im Feminismus“ beim Barcamp Frauen im März in Berlin erwähnte, ging Penny sie öffentlich an. Das wiederum löste einen riesigen Shitstorm aus. Stöver erhielt private Nachrichten mit Gewaltandrohungen und öffentlichen Beleidigungen. Auf Twitter musste sie lesen: „Eine Diät könnte dir auch nicht schaden – so 15 bis 20 Kilo?“
„Dabei habe ich Laurie nie eine Antisemitin genannt“, verteidigt sie sich. „Ich habe gesagt, sie unterstützt eine antisemitische Kampagne, BDS.“ Die internationale Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS), die Laurie Penny unterstützt, ruft Zivilgesellschaft und Politik dazu auf, Druck auf Israel auszuüben, und zwar, indem alles, was aus Israel stammt, ob Waren, Dienstleistungen oder wissenschaftliche Erkenntnisse, boykottiert wird, Beteiligungen an israelischen Firmen zurückgezogen und Sanktionen über den Staat Israel verhängt werden.
BDS wird in Deutschland häufig als antisemitisch kritisiert. „Ich weiß nicht einmal, ob ich Laurie als Antisemitin bezeichnen würde, sie ist auf jeden Fall Antizionistin, und sie sagt antisemitische Dinge. Wir brauchen aber nicht eine Bezeichnung für Penny, sondern die des Zustands, in dem wir gerade sind. Und da habe ich ein Wespennest gefunden, wie all der Hass, der mir entgegenschlug, gezeigt hat.“
Mit kämpferischer Geste
Stöver überlegte zwischenzeitlich, alle ihre Vorträge zu dem Thema abzusagen, alles hinzuschmeißen. Die heftige Kritik wurde ihr zu viel. „Doch das kann ich einfach nicht“, sagt sie. „Ich will klar machen, dass Antisemit*innen gar nicht gehen.“ Das Sternchen spricht sie mit, indem sie eine kurze Pause zwischen den Silben macht.
Auf ihrem Blog gibt sich Stöver meist kämpferisch: „Wir sehen einen Widerspruch zwischen Freiheit und Nation“ oder postet Forderungen wie: „Was wir brauchen ist nicht ein Mehr an Nationen, sondern die Dekonstruktion willkürlicher Grenzen, die Überwindung nationaler Identitätsbildung und den Kampf gegen strukturelle Diskriminierung aufgrund einer Staatsangehörigkeit.“ Auf Twitter skandiert sie: „Ich will, dass Menschen Feminismus tatsächlich als gesellschaftliche Notwendigkeit begreifen und fucking mal bei sich selbst anfangen.“
Seit der Pubertät bezeichnet sich Merle Stöver als Sozialistin. „Dabei wusste ich noch gar nicht so recht, was das bedeutet“, sagt sie. Ihre Eltern gaben ihr Jugendbücher zum Thema Nationalsozialismus, durch die Lektüre wurde Stöver zur vehementen Gegnerin rechter Gesinnungen. „Ich wollte dann unbedingt einer linken Jugendgruppe beitreten. Die Antifa gab es auf dem Dorf nicht, also ging ich zur SPD.“ Das war mit 15. „Da wurde ich politisch sozialisiert, beschäftigte mich intensiv mit dem Sozialismus und nannte mich mit Überzeugung so.“
2011 wird sie stellvertretende Landesvorsitzende der Jusos in Schleswig-Holstein. Ihre Themen: antirassistische Arbeit und Feminismus. Eine ihrer größten Forderungen: Es solle nicht immer nur nach einem Bundespräsidenten, sondern auch nach einer Präsidentin gesucht werden – denn auch eine Frau könne Deutschland repräsentieren. „Ironischerweise wurde mir deswegen Sexismus vorgeworfen“, erinnert sie sich und lacht. Mitglied der SPD ist sie noch immer. „In kritischer Solidarität“ – aber nicht mehr so aktiv. Sie habe sich einfach von dort wegentwickelt.
Idol Rosa Luxemburg
Neben ihrem Engagement bei der SPD schrieb Merle Stöver ihre politischen Gedanken auf ihrem Blog „The Anti in Romantic“ nieder. Mit 17 Jahren beschäftigte sie sich unter anderem mit Rape Culture, wirft der Gesellschaft vor, sexualisierte Gewalt zu relativieren und die Schuld beim Opfer zu suchen. „Damit war ich in der feministischen Community so etwas wie ein Wunderkind“, sagt sie. Sie versucht ihr stolzes Lächeln zu unterdrücken, aber so recht will es ihr nicht gelingen. Die leichten Grübchen verraten sie.
Ihr Gesichtsausdruck ändert sich, als sie über ihr Idol Rosa Luxemburg spricht. „Sie ist so eine bewundernswerte Frau“, schwärmt sie. „Den Film über sie habe ich mit 13 Jahren so oft gesehen, dass ich ihn noch immer mitsprechen kann.“ Bis heute ist Merle Stöver beeindruckt davon, wie energisch Luxemburg ihre Ideologie vertreten hat – auch wenn sie dafür oft ins Gefängnis musste. „Am meisten mag ich die Briefe aus dem Gefängnis. An denen sieht man, dass sie sich – obwohl sie ja selbst gerade in keiner angenehmen Lage war – am meisten um andere gesorgt hat.“ Sie spricht so enthusiastisch, dass man sofort den Film auch sehen, auch schwärmen, auch kämpfen will.
Wie zur Bekräftigung dreht sie sich um und zieht den Kragen ihres Kleids am Rücken ein Stück herunter. Ein Tattoo wird sichtbar. Es ist ein roter Stern, dazu die Schrift „Trotz alledem und alledem“. Die Worte stammen aus den besagten Briefen.
Merle Stöver beugt sich vor und drückt ihre Zigarette im Aschenbecher aus. So kann man ein zweites Tattoo sehen: einen bunten Heißluftballon, an dem statt eines Korbs ein Anker hängt. Daneben steht: „I refuse to sink“ – Ich weigere mich unterzugehen.
Zeichen für einen Neuanfang
Die Beharrlichkeit verdankt sie möglicherweise ihrer Familie. Stöver stammt aus Gehrden bei Hannover. Ihre Eltern waren streng, hatten große Pläne mit ihrer klugen Tochter. „Bundeskanzlerin“, sagt Stöver höhnisch, während sie ein wenig an ihrem Lippenpiercing knabbert. Das hat ihr ein Mitbewohner ihrer ersten WG in Kiel gestochen. In die ist sie mit 17 Jahren gezogen.
In Israel war Stöver für ein Praktikum in dem Altenheim Beit Siegfried Moses in Baka, Jerusalem – das war 2015, als Israelis in Städten wie Jerusalem von Palästinensern mit Messern angegriffen wurden. In manchen Berichten wurde das als „dritte Intifada“ oder „Urban Intifada“ bezeichnet.
Dort, in dieser unsicheren Umgebung, ließ Stöver sich ihr drittes Tattoo stechen. Es enthält keine kämpferische Botschaft, so wie die anderen beiden, sondern eine persönliche. „Ich bin nach einer schwierigen Zeit nach Israel gegangen“, erzählt sie. „Das Tattoo habe ich mir gleich in der ersten Woche stechen lassen. Als Zeichen für einen Neuanfang.“ Auf der Innenseite ihres Unterarms, knapp über der Armbeuge, trägt sie das hebräische Wort für „Hoffnung“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung