: „Es gibt überhaupt keinen Anlass zur Freude“
Perspektive Um das vereinte Europa zu retten, müssen Linke und linke Parteien sowohl EU-kritischer werden als auch proeuropäischer, sagt Gregor Gysi
ist Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke. Bis 2015 war er Fraktionsvorsitzender im Bundestag und seit Amtsantritt des dritten Kabinetts Merkel Oppositionsführer.
taz: Herr Gysi, die Linke reagiert auf den Brexit nach dem Motto: Wir haben ja immer gesagt, dass die EU undemokratisch und unsozial ist, und das ist jetzt die Quittung! Sehen Sie das auch so?
Gregor Gysi: Das ist richtig, aber daraus müssen die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden.
Welche?
Jetzt muss die Linke meines Erachtens um die Rettung der EU kämpfen und das verbinden mit Vorschlägen, wie sie endlich demokratischer, sozialer, ökologisch nachhaltiger, transparenter und unbürokratischer sowie von den Bevölkerungen akzeptiert wird. Wissen Sie, was der Grundfehler der EU war?
Was denken Sie?
Dass eine Verfassung geschrieben worden ist, die von zwei Bevölkerungen mehrheitlich abgelehnt worden ist. Da gab es zwei Wege: Der eine wäre gewesen, dass man eine Verfassung schreibt, die von der Mehrheit der Bevölkerungen aller EU-Staaten akzeptiert wird. Und der andere Weg war zu tricksen. Man lässt ein halbes Kapitel weg, dann ist es keine Verfassung mehr und kann ohne die Bevölkerungen entschieden werden. Man hat sich für den zweiten Weg entschieden. Und dafür bezahlen wir jetzt auch.
Also doch klammheimliche Freude über die Erosion der EU?
Es gibt überhaupt keinen Anlass zur Freude. Ich möchte nicht, dass die EU kaputtgeht. Die ganze Geschichte meiner Familie verlangt nach der EU. Sie verhindert Kriege zwischen den Mitgliedsländern. Kriege zwischen ihnen darf es nie wieder geben. Das wäre eine Katastrophe.
Sahra Wagenknecht meint: Es gibt für einen Linken wenig Grund, die EU, so wie sie heute ist, zu verteidigen …
Wenig mag sein, aber es gibt einen entscheidenden Grund: die Erhaltung des Friedens zwischen ihren Mitgliedsländern. Das ist mein wichtigstes Anliegen. Außerdem hätten die alten Nationalstaaten einzeln weder ausreichend politische noch wirtschaftliche Bedeutung weltweit, gegenüber den USA, China und anderen.
Muss die Linke also jetzt EU-kritischer werden oder proeuropäischer?
Beides. Wir müssen die EU kritisieren, wir müssen Vorschläge machen, wie sie besser organisiert werden kann, und gleichzeitig für ihre Rettung eintreten.
Komplex!
Leichter ist es nicht zu haben.
Welche Folgen wird der Brexit für die EU haben?
Der Brexit ist eine Tragik für Großbritannien, aber auch für die Europäische Union. Im Unterschied zu Martin Schulz glaube ich, dass es eine gewisse Kettenreaktion geben kann. Die Schotten wollen einen neuen Volksentscheid, wenn die austreten, ist auch Großbritannien kaputt. Und wenn Le Pen nächstes Jahr die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewinnt und Frankreich die EU verlässt, ist sie mausetot. Und ich möchte nicht, falls das passiert, dass die Linke dabeisteht als einer der Totengräber. Sondern die Linke muss dastehen als eine, die versucht hat, sie zu retten.
Kommt denn der Brexit der Linken irgendwie entgegen?
Ich glaube nicht, dass der Brexit zum Aufschwung der Linken führt, sondern zum Aufschwung der Rechten. Und zwar in Frankreich und Holland – aber auch in Deutschland. Und schon deshalb müssen wir aufpassen.
Wieso können die Linken nicht von der allgemeinen EU-Verdrossenheit profitieren?
Wenn ein Rechter sagt: „Wir müssen raus aus der EU“, ist das einfach. Als Linker kritisiere ich und muss gleichzeitig sagen, warum sie wichtig ist. Das ist eine kompliziertere Antwort.
Was müssen die Linken in Europa anders machen? Offenbar können sie sich ja gegenüber rechten EU-Kritikern nicht ausreichend Gehör verschaffen …
Linke in Europa haben unterschiedliche Auffassungen zur EU. Es gab immer Linke, die dagegen waren. Hinzu kommt, dass linke Parteien in Europa nach dem Zusammenbruch des Staatsozialismus derart in den Keller gegangen sind, dass sie solche Fragen und Entscheidungen gar nicht dominieren können. Jetzt gibt es eine neue Stärkung der Linken in Griechenland, Spanien und Portugal. Je nachdem, wie die Wahlen in Spanien ausgehen, kommen von dort vielleicht neue Signale.
Die EU ist ja auch etwa Elitäres. Die Gutgebildeten, die, die viel reisen, wissen sie zu schätzen. Die Armen, die Abgehängten, sind eher EU-kritisch. Wie kann man denn proeuropäische linke Kritik auch in solchen Milieus verankern?
Das Wichtigste ist, dass man eine proeuropäische Kritik so übersetzt, dass man damit auch die Bevölkerung erreicht. Es sind ja nicht nur elitäre Kreise, die für die EU sind, es gibt auch eine elitäre Ausdrucksweise: Wie erkläre ich etwa die Rolle der Europäischen Zentralbank? Die einfachsten, aber falschen Antworten geben immer die Rechten. Und leider glauben denen zu viele Leute.
INTERVIEW Anna Lehmann
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