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Neuer Stil Die einen Grünen zielen auf linke Milieus – und sind marginalisiert. Die anderen Grünen wollen auch Porschefahrer und verbitterte Kleinbürger mitnehmen – und sind so die führende Volkspartei in Baden-Württemberg geworden. Was bedeutet Winfried Kretschmanns historischer Wahlsieg für die Partei?Kompromister Germany

Aus Stuttgart und BerlinPeter Unfried

Eine junge Frau mit blonden Haaren und Super­smile steht am Rednerpult der Stuttgarter Staatsgalerie und schwäbelt glücklich den Saal mit den Standardsätzen der Wahlsieger voll. Älles subbr. Und das, obwohl sie eine Ausnahmespezies repräsentiert: Kerstin Lamparter, Wahlkreis Hechingen-Münsingen, ist eine Grüne, die nicht das Direktmandat gewonnen hat. Ein paar hundert Stimmen fehlen. „Jetzd muaß i aufhera“, ruft sie plötzlich, „weil do kommt d’r Winfried“.

Und da zieht er auch schon ein. Winfried Kretschmann, 67, amtierender Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der den Grünen einen nie dagewesenen Wahlsieg beschert hat. 30,3 Prozent, stärkste Partei, Auftrag zur Regierungsbildung. Aber das Härteste: In seinem Sog holt die Partei 46 von 70 Direktmandaten. Sie räumt nicht nur die sogenannten urbanen Milieus ab, Stuttgart, Freiburg, Tübingen, Heidelberg. Sie gewinnt Wahlkreise, die gerade noch so schwarz waren, dass die dunkle Seite des Mondes dagegen ein heller Ort ist.

Weshalb die große Frage nun lautet: Können die anderen in der Partei etwas vom Aufstieg der Kretschmann-Grünen lernen – oder bleibt es bei der Einschätzung, es handele sich hier um einen bizarren Sonderfall der Parteigeschichte?

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir hat noch am Wahl­abend in der Staatsgalerie versucht, das Motto „von Kretschmann lernen“ vorzugeben. Was meint er genau? Özdemir drückt auf sein Smartphone und zeigt auf einen mittlerweile geflügelten Tweet des EU-Spitzengrünen Reinhard Bütikofer: „Kretschmann kapieren, nicht kopieren.“

Es gehe nicht darum, alles wie Baden-Württemberg zu machen oder nichts, sondern das Modell zu kapieren und dann bestimmte Dinge zu übernehmen, sagt Özdemir. Und andere eben nicht. Aha. Schnell wird klar, was die Botschaft Nummer 1 ist. Bloß keine Diskussion, die den Eindruck erweckt, es gehe um eine Entscheidung zwischen den beiden Parteiflügeln.

Weshalb kein Realo sich in der folgenden Woche der Formel der traditionell simpel formulierenden Stuttgarter Nachrichtenanschließen will: „Mehr Özdemir, weniger Simone Peter“. Na ja, fast keiner. Weshalb auch funktionale Parteilinke wie Fraktionschef Anton Hofreiter und Geschäftsführer Michael Kellner erklären, selbstverständlich von Kretschmann lernen zu wollen.

Ein paar Tage später sagt Özdemir, man dürfe nicht so tun, als hätte Kretschmann nicht schon fünf Jahre regiert, sondern sei vorher „auf einer intergalaktischen Mission“ gewesen. „Ich finde es super, dass alle von diesem herausragenden Erfolg lernen wollen.“ Manchehätten ja zwischenzeitlich versucht, Kretschmann zu einem Schwarzen umzuschreiben. Und die CDU versuche das sowieso, „um von ihrer Niederlage abzulenken und davon, dass man als Grüner mit Grüner Politik erfolgreich sein kann“.

Kretschmann sieht die Grünen als wirtschaftsökologische Partei mit dem Green New Deal als Alleinstellungsmerkmal. Einen großen Teil der Politik hält er aber für konsensuell.

Die Frage sei, sagt Cem Özdemir, ob die Mehrheitsgesellschaft den Grünen auch auf Bundesebene zutraue, in entscheidenden Fragen richtige Entscheidungen zu treffen. In seinen Anfangsjahren habe man ihm eingebläut, das man das in der Opposition glaubhaft machen müsse, sagt Özdemir, der in den frühen 90ern im Landesvorstand war. „Wer durch diese Schule gegangen ist, der hat das in der DNA.“

Vielleicht bringt es bei der Betrachtung der Gegenwart ja wirklich nichts mehr, das ewige und sich selbst genügende Grünen-Spiel Realo (Özdemir) vs. Fundamentalistin (Peter) zu spielen. Bei dem die einen den anderen vorwerfen, sie seien weltfremd, und die anderen den einen, sie seien Opportunisten der Macht.

Offensichtlich ist: Parteien werden ihr Problem mit der Gegenwart nicht lösen, wenn sie die Alternativen im eigenen Spektrum suchen oder die Gegenwart mit der Vergangenheit abgleichen, egal ob die glorreich zu sein schien oder eher nicht. Ob es eine Partei seit 150 Jahren gibt oder seit 35, ist den Problemen völlig egal. Und den Leuten, die die Probleme gelöst haben möchten, auch. Im Moment sind wir in einer Phase der Unklarheit, in der alte Sicherheiten verloren gehen. Genau wie alte Mehrheiten. CDU und SPD konnten im Notfall immer zusammen regieren. Vorbei in Baden-Württemberg, vorbei in Sachsen-Anhalt. Damit haben die Wähler auch alte Blockaden aufgebrochen, die die Parteien nun nachvollziehen müssen.

Die Welt ist nun mal nicht mehr schön bipolar aufgeteilt in Osten und Westen, SPD und Union, Gut und Böse. Das spüren nun mit der üblichen zeitlichen Verzögerung immer mehr Leute. Die Flüchtlingsdynamik hat die Lethargie beendet, aber halt nicht so, wie es sich das linke Hänschen klein immer vorgestellt hat. Also, dass die anderen es endlich einsehen.

Das Gegenteil passiert: Sie sehen es nicht mehr ein und wählen jetzt AfD.

Wer von der Zukunft nichts erwartet, wird jede Veränderung als Gefahr verstehen und sich entweder wegen seines Problems zur AfD hinwenden oder das Problem verkürzt in der AfD sehen. Das sind zwei unterschiedliche Weltverständnisse, und doch geht es in beiden Fällen darum, eine Zeit wiederherzustellen, die nicht rückholbar ist. Deswegen ist die Problematisierungsdiskussion über die AfD nur ein Teil der Kernfrage. Die lautet: Wo ist vorn – und wie nutzt man das Aufbrechen der Verkrustung, um Menschen für die Zukunft zu gewinnen?

Schleswig-Holsteins stellvertretender Ministerpräsident Robert Habeck schiebt ein Dienstfahrrad vom Berliner Hauptbahnhof in die Landesvertretung nahe Brandenburger Tor, wo er sich einquartiert hat. Er trägt eine grellrote Winterjacke, drunter lugt der Ministeranzug hervor. Habeck, 46, will Spitzenkandidat der Grünen im Bundestagswahlkampf 2017 werden. Sonntagabend war er bei „Anne Will“ in der ARD. Damit hat offenbar sein persönlicher Wahlkampf begonnen.

Kretschmanns Politikstil hat er am „Grünen Kamin“ in der baden-württembergischen Landesvertretung, wo die neun regierenden Länder-Grünen ihre Bundesratsstrategien abstimmen, beobachtet. Für Habeck ist Kretschmanns Wahlsieg ein „Sieg der Ernsthaftigkeit“. Keine Show, keine Phrasen, die großen Zusammenhänge benennen, etwa seine Sorge um den Fortbestand der EU als eine Grundlage seiner Flüchtlingspolitik. „Ernsthaftigkeit“, sagt Habeck, „muss sich aber beweisen, und sie beweist sich in schwierigen Entscheidungen, nicht in leichten.“ Im Akzeptieren der verlorenen Volksabstimmung zu Stuttgart 21, in den Asylkompromissen mit der Bundesregierung.

Möglich und nötig „Es wird nichts besser, wenn wir nur CDU, CSU und SPD verhandeln lassen. Das schließt ein, dass man in Kompromissen Dinge hat, die man alleine nicht gemacht hätte“Robert Habeck, Grüne, Minister in Schleswig-Holstein

Ein guter Kompromiss ist: Jeder bekommt 70 Prozent

Gute Kompromisse, das ist für Habeck der Schlüsselbegriff einer Politik der Zukunft. Seine Definition eines guten Kompromisses: Jeder muss am Ende 70 Prozent von dem bekommen, was er eigentlich wollte. Auf gute Kompromisse war und ist seine Arbeit als Minister für Energiewende, Umwelt- und Naturschutz, Landwirtschaft, Deichbau und noch so einiges angelegt. Die vielen Zuständigkeiten führen bereits zu inneren Konfrontationen, etwa zwischen Windrädern und Naturschutz, und machen ihn zum Makler beider Seiten. „Nichts ist in sich selbst richtig“, sagt Habeck. „Ich weise den Weg entlang meiner grünen Werte, aber 86 Prozent haben mich nicht gewählt und ich muss eine gesellschaftliche Mehrheit hinter mich bringen.“

Im alten Denken war der Kompromiss stets der Verrat an den Grünen Idealen. So gelang es auch Jürgen Trittin zu seiner Zeit als Umweltminister nicht, seinen guten Kompromiss zum Atomausstieg als Erfolg zu kommunizieren. Das Denken war immer: Nicht total grün ist zu wenig.

Kretschmanns Leistung sieht Habeck auch darin, die Politik des guten Kompromisses stilbildend gemacht zu haben. „Ich bin inhaltlich nicht immer mit ihm einig, aber es geht darum, Handlungsspielräume zu eröffnen und nicht zu schließen“, sagt er. „Es wird nichts besser, wenn wir nur CDU, CSU und SPD verhandeln lassen. Das schließt ein, dass man in Kompromissen Dinge hat, die man allein nicht gemacht hätte, etwa die sicheren Herkunftsländer.“

Reinhard Bütikofer, in den 80ern Protagonist der baden-württembergischen Grünen, sagt, es gehe nicht um einzelne politische Positionen, sondern um eine Grundhaltung. Auch er nennt den guten Kompromiss als Werkzeug Grüner Politik. Die Hinwendung zur Gesamtgesellschaft. „Das Sprechen mit den Leuten. Nicht zu den Leuten.“

Das wissen manche Grüne gar nicht: dass ihre guten Worte bei anderen als belehrend und selbstgerecht ankommen. Trittin-Sound wird das intern genannt. Das andere Sprechen, das ist ein Schlüssel des „neuen Stils“, den Kretschmann für seine Grünen beansprucht. Neu im Vergleich zu den autoritären Politiksprechautomaten der CDU Baden-Württemberg, aber auch anders als es andere Grünen machen. Es ist ja auffällig, wenn selbst der ÖVP-Außenminister Sebastian Kurz in einer Talkshow gesprächsoffener rüberkommt als die Grüne Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt. Dabei pflegt die noch eine zurückhaltende Form der belehrenden Ansprache.

Kretschmann, sagt Habeck, habe sich mit seinem dialogischen Stil offensiv ins Zentrum der Mehrheitsgesellschaft gestellt. Und die, das beweisen die 30,3 Prozent, sei ihm tatsächlich gefolgt. Weil sie ihm vertraut. Weil sie ihn zu kennen glaubt.

Manchem Parteilinken allerdings graust es vor Personenkult. Bundesgeschäftsführer Kellner, der den Wahlkampf 2017 managen soll, hat in der taz davor gewarnt, „alles auf Personalisierung zu setzen“. Inhalte nicht vergessen!

Aber: Es ist nicht alles gleich Personenkult. Persönlichkeit wird generell in der Landes- und Bundespolitik immer wichtiger. Auch ein Oberbürgermeister wird nicht wegen Parteibuch-Dogmatismus wiedergewählt, sondern wenn die Leute ihn kennen und ihm vertrauen und denken, dass er auf der Grundlage seiner politischen Verortung die unterschiedlichen Interessen der Teilgesellschaften ordentlich austarieren werde.

Wer mit vier Spitzenkandidaten antritt, wie es die Berliner Grünen bei der Wahl im Herbst tun, der bedient die eigenen Mikro-Milieus. Aber den Schuss hat er offensichtlich nicht gehört. Das ist keine Frage von Realo oder Fundi. Gerade der linke Kreuzberger Held Hans-Christian Ströbele steht wie Kretschmann dafür, dass nicht Parteiprogramme mehrheitsfähig sind, sondern echte Persönlichkeiten.

Vor wenigen Jahren galt es noch als Weltwunder, dass Ströbele seinen Berliner Bundestagswahlkreis direkt gewann, als erster und bisher einziger Grüner. Und nun haben die Baden-Württemberger 46 Direktmandate, zwei Drittel aller Wahlkreise, an Orten, wo sie gerade noch so marginalisiert waren wie die Grünen es im Bund sind oder seit Sonntag wieder in Rheinland-Pfalz. Auf dem weiten Land, wo Mensch und CDU verschmolzen zu sein schienen.

Sigmaringen! Göppingen! Singen! Auch in Ravensburg mit seinem grünen Milieu war die Mehrheit rabenschwarz. Und ist es nun nicht mehr. Früher konnte die CDU einen schwarzen Besenstiel hinstellen, und der wurde gewählt. „Jetzt können wir fast einen grünen Besenstiel hinstellen“, sagt Reinhard Bütikofer. Selbst in superkonservativen Welten wie Tuttlingen verliert die CDU fast 13 Prozent, was aber auch am schwachen Direktbewerber gelegen hat, dem Spitzenkandidaten Guido Wolf. Sagen seine Parteifreunde.

In Bund und Ländern

Grüne im Bund: Der Bundestagsfraktion der Grünen gehören derzeit 63 Abgeordnete an. Sie ist damit die kleinste Fraktion – die Linkspartei entsendet 64 Abgeordnete.

In den Ländern: Die Grünen regieren in neun Bundesländern mit. In Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und derzeit noch Rheinland-Pfalz sind sie an SPD-geführten Regierungen beteiligt, in Hessen an einer CDU-geführten. In Schleswig-Holstein bilden sie eine Regierung mit der SPD und dem Südschleswigschen Wählerverband, in Thüringen mit Linkspartei und SPD. In Baden-Württemberg stellen sie in einer grün-roten Regierung den Ministerpräsidenten; derzeit finden dort Gespräche über die Bildung einer neuen Koalition statt.

„Hartes Bohren dicker Bretter“ nennt Winfried Kretschmann die Jahre seit 1980, als man mit sechs Hanseln und einem Kaktus in den Landtag einzog. „Grün passt zu Baden-Württemberg“ war schon damals die Devise; Wolf-Dieter Hasenclever, Rezzo Schlauch, Fritz Kuhn, Bütikofer und Kretschmann waren die Protagonisten dieses baden-württembergischen Weges, der immer aufs Regieren zielte. Aber in all der Zeit sahen das maximal 12 Prozent so.

Dann kam die Eruption von 2011 mit 24,2 Prozent und neun Direktmandaten. Und nun das. Man feiere eine „Orgie von Direktmandaten“, ruft Kretschmann in der Staatsgalerie. Da jubeln sie staatstragend orgiastisch und selbstzufrieden, denn sie finden längst, dass die Macht ihnen gut steht. Und zusteht.

Einige aber weisen auch darauf hin, dass die Entwicklung nicht nur auf dem Kretschmann-Phänomen beruht. Sondern auch auf dessen Verknüpfung mit den Knollen, die die Gründergeneration gepflanzt hat, dem Oppositionsstil des Regieren-können-Wollens. Und dem Gespür des Regierungs- und Fraktionsteam in Stuttgart. „Wir sind auch nicht alle auf der Brennsuppe dahergeschwommen“, sagt ein Grüner Minister.

Reinhard Bütikofer hat da eine Theorie. Sie besagt, dass einige Grünen jetzt erst merken, dass sie mit Kretschmann in der dritten Phase ihrer Geschichte sind. Erste Phase: große Fragen. Zweite Phase: etwas beitragen. Dritte Phase: Orientierung geben. Die Kretschmann-Grünen sieht er als „Orientierungspartei“ in einer Zeit, in der große Fragen zurückkehren, aber mit einer Antwort verknüpft werden müssen. Es gehe nicht darum, in die Mitte zu gehen, sondern darum, seine Radikalität in die Mitte zu tragen. „Kretschmann ist eine Mitte, die ihre eigene Radikalität hat, indem er das Ökologische, die ethischen Fragen wirklich ernst nimmt.“

Ein Problem der Grünen besteht demnach darin, dass sie in unterschiedlichen Parteiphasen agieren. Daraus entsteht eine größere Spannung als zwischen Parteiflügeln. Die einen haben eine Rolle als Regierende, das gilt für zahlreiche Länder. Die anderen, auch die im Bund, haben keine Rolle. Rheinland-Pfalz hat auch ordentlich regiert, ist aber zurückgefallen in einen unentschlossenen Halb-Oppositionswahlkampf. Mit dysfunktionalen Slogans wie „Mutig, bunt, engagiert“. Mit internem Zank. Ohne die Autorität einzusetzen, die man mit der Wirtschafts- und Energieministerin Eveline Lemke ja gehabt hätte.

Die Sorge, ein Grüner sei nicht mehr grün, weil zu mittig, ist auch nur eine Form von Weltflucht. Die Leugnung einer veränderten Situation, die neue Antworten erfordert. Nähert sich ausnahmsweise mal jemand einem neuen Problem, wird ihm der Abstand von der alten Stelle vorgehalten. Medien und Parteien betreiben dieses Spiel fast manisch, wie man etwa am Umgang mit dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer sieht. Palmer als Regierender will über die Lösung von Problemen sprechen, die anderen Grünen machen ein Problem daraus, wie Palmer spricht.

Im Grunde haben viele Grüne die veränderte Gesellschaft nicht verstanden. Das sagt Heinz Bude nicht, aber man kann ihn so verstehen. Er betritt seine Berliner Wohnung, haarlos gut frisiert, in einer roten Vintage-Puma-Trainingsjacke mit der Nummer 10. Netzer. Der Soziologieprofessor hat soeben das definitive Buch zur Lage herausgebracht: „Das Gefühl der Welt“ (Hanser). Darin beschreibt Bude, 61, wie entscheidend Stimmung für die Politik ist. Die Wahlsiege von Brandt und Schröder waren Ausdruck einer Fenster-auf-Stimmung, schreibt er. Heute herrsche in weiten Teilen die Stimmung einer geschlossenen Zukunft.

Budes wichtigste Erkenntnis: Der Riss der Gesellschaft liegt nicht zwischen links und rechts, auch nicht zwischen Vertretern der offenen und der nicht offenen Gesellschaft. Die Einwanderungsfrage hat nur die Irritation sichtbar und lautstark gemacht.

Die Gereiztheit besteht zwischen, wie er das nennt, heimatlosen Antikapitalisten und positiv gestimmten Systemfatalisten. Die ersteren fürchten, dass wegen des Finanzkapitalismus alles gegen die Wand fährt. Ihr Fenster zur Zukunft ist geschlossen. Ausprägungen heimatloser Antikapitalisten können sowohl frustrierte, AfD wählende Kleinbürger sein als auch Mitglieder der Grünen Bundestagsfraktion. Die zweiteren, die Systemfatalisten, finden erfreulich, dass, global betrachtet, die Armut sinkt und die Mittelschicht wächst. Und dass „in den progressiven Errungenschaften der deutschen Gesellschaft eine überraschend große Potenz steckt“. Was es für sie erstrebenswert macht, diese Errungenschaften zu bewahren.

Die einen sind Apokalyptiker, die anderen insistieren auf eine ewige Gegenwart. Beiden fehlt eine positive Idee von Zukunft.

Der Grüne Kretschmann, sagt Bude, stehe jenseits dieser Lager. „Er ist der Prophet einer reparativen Stimmung.“ Er verkörpere die „Idee kollektiver Handlungsfähigkeit“, greife in die Gesellschaft aus und peile den Kleinbürger genauso an wie den Porsche-Cayenne-Fahrer, der ja stets als Stereotyp für Kretschmanns angeblichen Öko-Relativismus herhalten muss.

Wenn Porsche-Fahrer einen nicht wählen – das ist gut?

„Kretschmann zielt auf das Ganze und damit auf die Chance, den Porschefahrer in eine reparative Struktur der Wechselseitigkeit hineinzuholen.“ Der erste SPD-Bundeskanzler Willy Brandt habe 1969 in seiner Regierungserklärung eine „Fühlungsnahme“ mit allen repräsentativen Gruppen versprochen. Den Begriff findet Bude auch für Baden-Württembergs Ministerpräsidenten passend. Da es mit der SPD nicht reicht, fühlt er jetzt selbstverständlich bei weiteren gesellschaftlichen Gruppen vor. Was denn sonst?

Was ist überhaupt gewonnen, wenn man den Cayenne-Fahrer ins Lager der Bösen verweist?

Tja. Damit sind wir tief im grünen Herzen der Finsternis. Auch hier, sagt Bude, herrscht Verbitterung, teilweise aus den gleichen Gründen wie im rechten Kleinbürgertum. Weil man sich mehr versprochen hatte. Beruflich. Und sonst auch. Eine Allianz mit dem Cayenne-Fahrer nennt Bude den „Verlust der inneren Verfeindlichungschance“. Was bleibt einem da noch?

Ist es also so: Wie Kanzlerin Merkel mit ihrer in der Ansprache grün daherkommenden Einwanderungspolitik die verbitterten CDU-Milieus weg sprengt, so könnte Kretschmann mit seiner neuen integrativen Ansprache die verbitterten Grünen-Milieus weg sprengen? Nein, sagt Bude. Die „reparative Stimmung“, die Kretschmann verkörpere, könne das unglückliche Patt lösen zwischen denen, die den Systemgegner für ihr Selbstwertgefühl brauchen, und jenen, die mit ihrer Systemfreundlichkeit die Maßstäbe verlieren und den Sinn für die Krise aufs Spiel setzen. „Zusammenbringen heißt Weiterbringen“, sagt Heinz Bude.

Das ist der Kern von Winfried Kretschmanns Grüner Volkspartei.

Peter Unfried, 52, ist taz-Chefreporter. Er fährt ein 3-Liter-Auto

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