Die Revolution lebt

POLITIK UND WIDERSTAND Syriens Zivilgesellschaft sendet eine deutliche Botschaft nach Genf. Doch Assad will die Macht nicht abgeben

Putins Pläne

Der Kreml-Chef scheint verstanden zu haben, dass sein Syrien-Engagement auf Dauer zu teuer ist und schlecht enden wird. Er setzt jetzt auf eine politische Lösung

von Kristin Helberg

Nachrichten zu Syrien klingen dieser Tage hoffnungsvoll. Russland zieht Truppen ab, es fallen weniger Bomben, in Genf wird verhandelt und die Revolution geht weiter. Revolution? Ja, richtig. Vor fünf Jahren begann kein Bürgerkrieg, sondern der Aufstand der Syrer gegen die Diktatur. Proteste breiteten sich innerhalb von Wochen im ganzen Land aus.

Fünf Jahre und 470.000 Tote später das gleiche Bild. Menschen demonstrieren friedlich. Sobald die Bewohner oppositioneller Gebiete weniger bombardiert und besser versorgt werden, malen sie wieder Plakate, schwenken Revolutionsfahnen, singen und tanzen.

An mehr als 100 Orten, von Dael im Süden bis Azaz im Norden, finden seit Beginn der Feuerpause Ende Februar Proteste statt. Selbst in seit Jahren abgeriegelten Vororten von Damaskus, in denen es sonst Fassbomben regnet und Marktplätze, Krankenhäuser und Schulen angegriffen werden, gehen Tausende auf die Straße. „Die Revolution ist eine Idee und Ideen lassen sich nicht töten“, steht auf einem Plakat. „Assad kann die Feuerpause brechen, aber nicht den unbezwingbaren Geist der Revolution“ auf einem anderen.

Die internationale Gemeinschaft, die in Syrien vor allem den Terror des „Islamischen Staates“ (IS) und „Flüchtlingsströme“ sieht, reibt sich die Augen. Gewöhnliche Bürger – Assads „vom Ausland gesteuerte Terroristen“ – fordern noch immer den Sturz des Regimes. Sie demonstrieren nicht für naheliegende Ziele wie etwas zu essen oder baldigen Frieden, sondern für eine politische Vision: Ein „demokratisches Syrien“, „Freiheit für alle“.

Assads Gegner sind sich im Kern einig. Sämtliche oppositionellen Kräfte – die im Land und die außerhalb, Gemäßigte wie Radikale, Säkulare wie Islamisten, Rebellen und Aktivisten – stimmen überein, dass ein politischer Übergang nur ohne Assad und seine Führungsriege funktionieren kann.

Daraus folgt die einzige gute Nachricht für Genf. Weil es inzwischen eine Verbindung gibt zwischen Politikern und Kämpfern, zwischen Diplomatie und Straße, sitzen alle direkt oder indirekt mit an einem der vielen Genfer Tische. Die Gespräche finden folglich nicht mehr wie früher abgekoppelt von der Realität in Syrien statt, sondern haben einen Bezug zur Lage der Menschen vor Ort. Das hat gerade die letzte Runde Anfang Februar gezeigt. Solange Zivilisten gnadenlos bombardiert und ausgehungert werden, kommen Verhandlungen gar nicht zustande. Erst jetzt, nachdem weniger Bomben fallen und etwas mehr Hilfe die Ausgezehrten erreicht, kann es um Politik gehen.

Die schlechte Nachricht ist, dass die Gespräche dennoch so gut wie aussichtslos sind. Denn auf der anderen Seite sitzt eine Regierung, die keinen Grund zum Verhandeln sieht. Die sich jede Einmischung von außen verbittet, nur mit loyalen Syrern, die Assads Macht anerkennen, reden will und sich stets auf das syrische Volk beruft, dabei aber den unliebsamen rebellischen Teil dieses Volkes verleugnet, vertreibt und tötet.

Es stehen sich deshalb zwei unvereinbare Positionen gegenüber. Assad strebt eine Regierung der Nationalen Einheit unter seiner Führung an, in die er ein paar zahme Kritiker integriert. Das Hohe Verhandlungskomitee (HNC) der Opposition fordert eine Übergangsregierung mit voller Exekutivgewalt ohne Assad und seine Getreuen. Die Idee des UN-Sondergesandten Staffan de Mistura, das Thema Assad außen vor zu lassen, und zunächst auf beiden Seiten nach geeigneten Personen für eine Übergangsregierung zu suchen, scheint kaum umsetzbar.

Was aber passiert, wenn die Gespräche in Genf scheitern? Ist die Feuerpause dann hinfällig? Dazu muss man wissen, warum und in welchem Umfang sich die Beteiligten bislang daran halten. Assad bombardiert weniger, weil Russland es so verlangt. Moskau will zeigen, dass es Einfluss in Damaskus und Interesse an einer Verhandlungslösung hat. Beide schießen nur so viele Raketen ab, wie für die internationale Gemeinschaft „erträglich“ ist. Darunter auf Orte wie Talbiseh in der Provinz Homs und Al Marj östlich von Damaskus, wo weder der IS noch die Nusra-Front präsent sind.

Trotzdem halten auch dort die Rebellen erstaunlich still. Offensichtlich erscheint ihnen der Preis zu hoch, den sie mit Vergeltungsaktionen riskieren würden: erneute Luftangriffe, für die sie aus Sicht der Bevölkerung dann verantwortlich wären. Deshalb lassen sich die Kämpfer bislang nicht provozieren. Russlands Teilabzug könnte alle Parteien zu weiterer Zurückhaltung motivieren.

Kristin Helberg

Foto: privat

lebte von 2001 bis 2008 in Damaskus und pendelte anschließend zwischen Deutschland und Syrien, bis ihr 2011 die Einreise verweigert wurde. Im Jahr 2014 erschien die aktualisierte Fassung ihres Buchs "Brennpunkt Syrien" bei Herder.

Hinter Putins Entschluss stecken eine Einsicht und eine Absicht. Der Kreml-Chef scheint verstanden zu haben, dass sein Syrien-Engagement auf Dauer zu teuer ist (laut russischen Experten 2,5 Millionen Dollar täglich) und böse enden wird. Statt Assad mit Hilfe des Iran, der Hisbollah und anderer schiitischer Milizen zum militärischen Sieg zu verhelfen, um dann als alawitisch-schiitisch-christliche „Besatzer“ die sunnitische Bevölkerungsmehrheit gegen sich aufzubringen und in einem verlustreichen Krieg zu versinken, setzt er auf eine politische Lösung als Exit-Strategie.

Putin hat das Blatt militärisch zugunsten Assads gewendet, ihm zu einer starken Verhandlungsposition verholfen und sich selbst zum Power Broker aufgeschwungen – damit hat der Kreml-Chef vorerst genug erreicht. Zeit, sich auf Russlands Marinestützpunkt in Tartus und den Militärflughafen bei Latakia zurückzuziehen – jederzeit einsatzbereit. Und die Absicht? Moskau wird Assad so lange unterstützen, bis russische Interessen auch anderweitig garantiert sind. Dann könnte Putin dem syrischen Präsidenten zu einem gesichtswahrenden Abgang verhelfen und sich als Friedensstifter inszenieren. Fest steht: Assads größte Stärke – die Unterstützung Russlands und des Iran – ist zugleich seine größte Schwäche. Denn die Bedingungen, die beide Länder stellen, nagen an Assads Machtbasis.

Iran macht sich religiös, politisch, militärisch und gesellschaftlich in Syrien breit und löst dadurch Unmut und Widerstand unter Assads langjährigen Weggefährten aus, die sich zu Vasallen degradiert und verraten fühlen. Und Russland entzieht dem syrischen Regime just in dem Moment die militärische Speerspitze, in dem sich seine Vertreter siegesgewiss mit de Mistura an den Tisch setzen wollten.

Kann der UN-Vermittler die Gunst der Stunde nutzen? Er braucht die konstruktive Mitarbeit aller, auch die Interessen der Nachbarländer müssen bis zu einem gewissen Grad berücksichtigt werden, damit sie einen Deal nicht im Nachhinein vereiteln. Aber egal auf was sich Amerikaner und Russen einigen – ob zwei, sechs oder 18 Monate mit Assad – viele Syrer werden nicht ruhen, bis dieser weg ist. Gegen ihren Willen wird keine politische Lösung das Land befrieden können. Deshalb sollten die Unterhändler in Genf die Sprechchöre dieser Tage im Ohr haben: „Die Revolution geht weiter, bis das Regime stürzt.“