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Emotionale Türöffner

Integration I Theaterpädagoge Christian Liebsch und Schauspielerin Sylvie Treml bringen Flüchtlingskindern Deutsch bei – und bereiten sie so auf das „System Kita“ vor

von Uta Schleiermacher

Psst, ganz leise sitzen sechs Mädchen und fünf Jungen neben Christian Liebsch auf dem Boden. Er hält einen Tablet-Computer in der Hand und drückt den Aufnahmeknopf. „Setz dich hin“, sagt die siebenjährige Zarah (Name geändert) und betont dabei jedes Wort. Liebsch stoppt die Aufnahme und spielt sie den Kindern noch mal vor. Die freuen sich, sprechen den Satz mit und drängeln, wer als Nächstes drankommt. „Karim, jetzt du“, sagt Liebsch zu einem sechsjährigen Jungen. „Und alle anderen bitte ganz leise sein.“

Liebsch ist Theaterpädagoge, seit letztem November kommt er zusammen mit der Schauspielerin Sylvie Treml dienstags und freitags für je eineinhalb Stunden in die Flüchtlingsunterkunft Storkower Straße. Dort leben knapp 90 Kinder mit ihren Familien. Etwa 20 Jungen und Mädchen sind unter fünf Jahre alt und haben damit Anspruch auf einen Kitaplatz. Doch bisher geht noch keins der Kinder in eine Kita.

Berlinweit besucht laut Senatsverwaltung für Bildung und Jugend nur ein sehr geringer Teil der Kinder, die in Not- oder Gemeinschaftsunterkünften leben, eine Kindertagesstätte. Von den rund 3.000 Kindern, die im Dezember 2015 in solchen Flüchtlingsheimen untergebracht waren, ging ein Sechstel in eine Kita.

Dass so wenig Kinder dort ankommen, liegt nach Aussage der Senatsverwaltung einerseits daran, dass viele Eltern Kitas aus ihren Herkunftsländern nicht kennen. Andererseits hätten viele Familien in der ersten Phase des Ankommens das Bedürfnis, die Familie zusammenzuhalten. „Viele benötigen erfahrungsgemäß zunächst eine Zeit der emotionalen Stabilisierung“, sagt ein Sprecher von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD). „Die mit dem Kitabesuch verbundene Trennung stellt für sie noch eine zu hohe Hürde dar.“

Dabei sei der Besuch einer Kita gerade für Kinder aus geflüchteten Familien wichtig, um früh die Sprache zu lernen und um in die Gesellschaft integriert zu werden, meint die Senatsverwaltung. Die Stunden mit den Theaterpädagogen sollen als „emotionale Türöffner“ dienen, wie der Sprecher es ausdrückt, und die Eltern mit dem „System Kita“ vertraut machen. Und die Kinder sollen sie auf den Besuch einer Kita vorbereiten – sprachlich und sozial.

Die meisten Kinder in der Unterkunft in der Storkower Straße kommen aus arabischsprachigen Familien und konnten vor drei Monaten noch gar kein Deutsch. Einige können sich inzwischen schon gut verständigen. Mit den Theaterpädagogen lernen sie spielerisch Wörter, Sätze und die Aussprache. Liebsch lässt die Kinder den Satz wiederholen, wenn sie nuscheln oder Laute vertauschen. „Hände klatschen!“, ruft Zarah den anderen zu. Die Kinder klatschen und wiederholen dabei mit Liebsch und Treml: „Wir klatschen in die Hände!“ Zarah überlegt sich etwas Neues. „Auf einem Bein stehen!“, ruft sie, danach wird sie abgelöst.

Kindertagesbetreuung

Im Dezember 2015 lebten knapp 3.000 Kinder in der Altersgruppe unter 6 Jahren in Gemeinschafts- und Notunterkünften, davon nahmen knapp 600 Kinder Kindertagesbetreuung in Anspruch. Die Zahl der Kinder aus Flüchtlingsfamilien, die bereits in einer eigenen Wohnung leben, wird derzeit statistisch noch nicht erfasst. Berlinweit gibt es laut Senatsbildungsverwaltung derzeit rund 6.600 freie Kitaplätze.

Zwölf Einrichtungen haben an dem Pilotprojekt teilgenommen. Es richtet sich vor allem an Kinder zwischen 4 und 6 Jahren, in der Praxis waren auch oft ältere und jüngere Geschwisterkinder dabei. Eine absolute Zahl der Kinder, die mit dem Projekt erreicht werden konnten, liegt daher nicht vor.

Neben den Theaterpädagogen sind auch Sprachförderer an dem Pilotprojekt beteiligt, die mit den Kindern die obligatorischen Sprachstandstests durchführen. Bei diesen Tests wird geprüft, ob Kinder vor dem Schuleintritt altersgerecht sprechen können, gegebenenfalls wird eine Sprachförderung angeordnet. (usch)

Zu wenig Plätze in der Nähe

Kitaplätze gäbe es ausreichend, so die Auskunft der Senatsverwaltung. Bernd Schwarz, Elternvertreter im Bündnis für Kinder geflüchteter Familien „Willkommen konkret“, ist anderer Meinung. „Auch die Plätze sind ein Problem“, sagt er. Denn Unterkünfte seien oft dort, wo Platz ist, und nicht dort, wo die Infrastruktur gut sei. „Kinder aus den Notunterkünften haben häufig keine Möglichkeit, in die Kitas zu kommen, weil es zu wenige Plätze in der Nähe gibt“, sagt Schwarz. Gerade für Familien in Flüchtlingsheimen seien aber kurze Wege besonders wichtig.

Außerdem sollten Kinder und Familien eigentlich nur kurze Zeit in Notunterkünften leben, um dann in Gemeinschaftsunterkünfte oder Wohnungen umzuziehen. „Doch die Familien sind mehrere Monate in diesen Unterkünften untergebracht. Und es ist oft auch unsicher, wann sie umziehen können“, sagt Schwarz. Er könne daher gut verstehen, wenn Eltern und SozialarbeiterInnen zögern würden und erst mal abwarten wollten.

„Ich kenne eine Familie, die jetzt von Marzahn nach Charlottenburg gekommen ist“, sagt Schwarz, „sie hatten dort einen Kitaplatz, aber sie werden wohl kaum dahin pendeln.“ Sie hätten ihr Kind eingewöhnen und dann die Kita doch wieder wechseln müssen. „Eltern haben kein Mitspracherecht, die Entwicklung und das Wohl des Kindes spielt keine Rolle bei den Überlegungen“, kritisiert Schwarz.

Und selbst wenn es eine Kita in der Nähe von Not- und Gemeinschaftsunterkünften gibt, sei es nicht sinnvoll, dort direkt 20 Kinder aus geflüchteten Familien hinzuschicken, denn eine soziale Mischung fördere die Integration.

Die Kinder werden auf den Kitabesuch eingestimmt – sprachlich und sozial

Nach etwa einer halben Stunde Deutschüben werden die Kinder unruhig. Treml lässt sie nachsprechen: „Ich bin müde.“ Großes Gähnen und Recken. „Müüüüde.“ Die Betreuerin verbindet Sprache und Wörter mit dem Körper und Bewegungen und versucht, damit auch wieder ein bisschen Ruhe in die Gruppe zu bekommen. „Ich bin schön“, sagt sie und streckt ihre Arme weit aus, „wie die Sonne.“ Sie beginnt ein Lied, in dem die Sonne ihre Strahlen putzt, und streicht sich dabei über Arme und Beine. Die Kinder machen es nach, singen mit. Bis eins der Kinder sich Papier und Stifte schnappt. Andere wollen mitmachen. „Die Kinder lassen sich schnell ablenken“, sagt Treml. „Daran merkt man, dass sie im Moment kein normales Leben führen, hier fehlt das Nest.“

Programme wie das der Theaterpädagogen könnten nur ein Baustein sein, meint Schwarz. „Ein wichtiger Baustein. Aber noch wichtiger ist, dass die Kinder schnell in richtige Kitas kommen.“ Denn die Kinder hätten ein Anrecht auf frühe Förderung und Bildung. Dies könne in den Einrichtungen selbst nicht geleistet werden, wo Kinder oft von Ehrenamtlichen betreut würden. Auch sei das Umfeld wenig kindgerecht. „Die Einrichtungen sollten zumindest so ausgebaut werden, dass die Kinder sich halbwegs bewegen können“, sagt Schwarz.

In der Storkower Straße sind die eineinhalb Stunden des etwas anderen Deutschkurses fast vorbei. Die Kinder sitzen nun am Tisch und malen Mond, Sterne und Sonne aus. Ein Junge summt dabei das Lied vor sich hin, das die Gruppe zur Begrüßung singt. Liebsch geht herum und drückt jedem Kind einen Sternenstempel auf die Handfläche, als Zeichen, dass sie mitgemacht haben. Karim geht das nicht schnell genug. „Ich will, ich will, ich will!“, ruft er. Und hat damit schon einen wichtigen Satz gelernt.

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