Libyen

Fünf Jahre nach dem Sturz Gaddafis dehnt sich der "Islamische Staat" immer weiter aus. Kann die UNO das Land stabilisieren?

„Libyen darf nicht das Syrien von morgen werden“

Vereinte Nationen Um den IS zu besiegen braucht Libyen eine Einheitsregierung und ein Sicherheitsabkommen zwischen den rivalisierenden Milizen, sagt Martin Kobler

Ein Libyer zeigt die Fahne der Revolution auf einer Demo gegen Anhänger von Ex-Diktator Gaddafi in Bengasi Foto: Abdullah Doma/afp

Interview Karim El-Gawhary

taz: Herr Kobler, fünf Jahre nach dem Beginn des Bürgerkriegs in Libyen gibt es nun einen Vorschlag für eine Einheitsregierung. Kommt diese Regierung zustande?

Martin Kobler: Die Chancen stehen gut, dass die Regierung das Licht der Welt erblickt. Wichtig ist, dass das im Land passiert, also keine Exilregierung entsteht. Das hängt natürlich von vielen Faktoren ab, insbesondere der Sicherheitslage in Tripolis. Es muss zu einem Sicherheitsabkommen kommen; das vorläufige Sicherheitskomitee des Präsidentschaftsrates verhandelt deshalb mit den Milizen – und wir begleiten das intensiv. Dann ist natürlich das erste Thema auf der Tagesordnung die Ausdehnung des „Islamischen Staates“. Das zweite ist die wirklich vollkommen desaströse humanitäre Lage. Die neue Regierung muss liefern, denn die Menschen erwarten, dass sie für eine Verbesserung der Lebenssituation sorgt.

Bisher ist die Lage in Tripolis aber trotz aller Verhandlungen zu chaotisch, als dass eine Einheitsregierung dort auch ihr Amt antreten könnte …

Die Regierung kann nicht im Exil sitzen, sie muss nach Tripolis. Deswegen sind unsere Bestrebungen jetzt darauf fokussiert, das zu ermöglichen. Auf der anderen Seite gibt es Machthaber, die das Abkommen schlichtweg ablehnen. Ich finde, das geht nicht. Es gibt eine Sicherheitsratsresolution. Ich habe mit den Präsidenten beider Parlamente gesprochen und sie gebeten, sich auf der Basis des libyschen Abkommens zu bewegen. Bei allen Meinungsverschiedenheiten ist das jetzt die Basis. Sie ist alternativlos.

Skeptiker befürchten, dass wir es nach der Bildung der Einheitsregierung statt wie heute mit zwei Regierungen mit drei zu tun haben werden. Sie auch?

Das darf nicht passieren. Die bis jetzt anerkannte Regierung in Tobruk wird durch die Einheitsregierung ersetzt, die in Tripolis hat ohnehin keine Legitimität. Die Sicherheitsratsresolution sagt ganz klar, dass die einzig legitime Regierung die durch das libysche Abkommen geschaffene ist. Die Zentralbank, die ja Behörden wie Milizen finanziert, wird dann nur diese eine Regierung unterstützen. Ich glaube, Geld ist da schon ein wichtiges Druckmittel.

Die Zentralbank finanziert alle Seiten im Konflikt und ist somit die einzige staatliche Institution, die landesweit agiert?

„Niemand in Libyen hat ein Interesse an einer schwachen Regierung“

UN-Missions-chef Martin Kobler

Sie finanziert die Gehälter, die Subventionen und auch die Milizen auf allen Seiten aus den Öleinnahmen. Ihr Einkommen ist allerdings von 280 Milliarden Dollar auf jetzt circa 50 Milliarden Dollar gesunken. Wenn jetzt nichts passiert, ist bald kein Geld mehr vorhanden. Das ist einer der Gründe, warum es so wichtig ist, dass alle politischen Parteien sich einigen. Die Ölproduktion ist von 1,6 Millionen auf 350.000 Barrel am Tag zurückgegangen. Dann haben wir noch den fallenden Ölpreis, der jetzt bei 30 Dollar liegt und vielleicht noch mehr fällt. Das sind enorme Einkommensverluste, deswegen werden die Reserven der Zentralbank weiter schrumpfen.

Libyen besteht heute aus zwei großen und einem Geflecht kleinerer Machtzentren. Wieso sollen die jetzt bereit sein, tatsächlich Macht an eine Einheitsregierung abzugeben?

Die längste Reise fängt mit dem ersten Schritt an. Ich gebe zu, dass Chaos und Anarchie im Land herrscht mit großen und kleinen Machtzentren; aber auch die, die vorgeben, große Machtzentren darzustellen, etwa in Tripolis, deren Macht reicht oft nicht weiter als 500 Meter von ihrem Haus entfernt, dann fängt der Machtbereich der nächsten Miliz an. Zwei Elemente spielen eine wichtige Rolle: Da sind die Städtevertreter, die gewählt sind, und die Stämme im Osten. Diese Gruppen nehmen wir ganz besonders in Augenschein. Und wir ermutigen sie, die Regierung zu unterstützen. Niemand hat ein Interesse an einer schwachen Regierung. Die Ausdehnung des „Islamischen Staates“, aber auch die humanitäre Situation erfordern eine starke Regierung. Es sind immerhin 1,4 Millionen Menschen von Nahrungsmittelhilfe und 2,4 Millionen von humanitärer Hilfe abhängig.

Sie arbeiten gerade an einem „humanitären Waffenstillstand“ für Bengasi. Warum ist der gerade dort so wichtig?

Teile Bengasis liegen heute in Schutt und Asche. Es wird ständig gekämpft. 66 Prozent der Schulen können nicht mehr öffnen. Die Kinder haben ein Schuljahr verloren. Die ausländischen Arbeiter sind weggegangen, die Krankenhäuser sind zu oder haben das Nötigste nicht mehr zur Verfügung. Das ist eine völlig desaströse Situation.

Es wird viel darüber geredet, wie sich der „Islamische Staat“ in Libyen ausbreitet. Es gab sogar schon Spekulationen, dass die IS-Führung von Syrien und dem Irak, wenn es dort militärisch zu eng wird, nach Libyen umziehen könnte …

In Libyen gibt es bislang alles doppelt: zwei Regierungen, von denen eine in der Hauptstadt Tripolis im Westen und eine in Tobruk im Osten sitzt, zwei Parlamente und zwei Ölministerien. Der Versuch, unter UN-Vermittlung eine Einheitsregierung zu bilden, war zunächst nicht erfolgreich.

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte: Die Dschihadisten des „Islamischen Staates“ nutzen das politische Vakuum in dem nordafrikanischen Land und bringen immer mehr Gebiete unter ihre Kontrolle.

Doch nun kommt in die Bemühungen um eine Einheitsregierung wieder Bewegung: Seit Sonntag liegt eine neue Kabinettsliste vor, die allerdings noch von dem international anerkannten Parlament in Tobruk akzeptiert werden muss. Die Liste ist eine neue Fassung eines früheren Entwurfs, der abgelehnt wurde. (bs)

Wir verfolgen das genau. Zwischen Januar 2015 und Januar 2016 gab es wirklich eine starke Ausbreitung. Auch im Sinne von Staatlichkeit am Golf von Syrte. Der IS versucht gerade, die Ölterminals von Ras Lanuf einzunehmen, das wäre natürlich desaströs, wenn das wenige Öl, das Libyen heute noch produziert, in die Hände des IS fällt. Wir sehen eine klare Ausdehnung nach ­Osten. Es gibt aber auch in den letzten Wochen Terroranschläge, die im Westen stattfinden. Aber ganz beunruhigend ist die Ausdehnung Richtung Süden, das schreitet täglich voran. Das ist eine klare Einflusszone, die sich jetzt in den Süden ausbreitet, natürlich mit dem strategischen Ziel, mit Boko Haram und den Terrorgruppen im Tschad und in Niger gemeinsame Sache zu machen.

Es heißt immer wieder, dass das Waffenembargo der Vereinten Nationen gegen Libyen aufgehoben werden könnte, wenn endlich eine Einheitsregierung im Amt ist. Gibt es nicht schon viel zu viele Waffen im Land? Wie passt das zusammen: Milizen entwaffnen und gleichzeitig das Waffenembargo aufheben?

Im Prinzip ist das Land nicht arm an Waffen. Statistisch hat jeder Libyer 3 Waffen. Aber in dem Moment, in dem eine Regierung gebildet ist, ist es deren erste Aufgabe, eine Sicherheitsstruktur zu finden, mit der der IS bekämpft werden kann. Das müssen aber die Libyer selber machen, das muss ihr Kampf gegen den IS sein, und dazu braucht die neue libysche Armee dann natürlich auch moderne Waffen. Ich habe Verständnis für die Forderung nach Aufhebung des Waffenembargos, aber das muss von einer Regierung beantragt werden, die wirklich legitim ist und nicht nur einen Teil des Landes vertritt.

Derzeit findet ja ein regelrechter Wettlauf statt, zwischen dem Versuch, eine Einheitsregierung zu schaffen, und dem Aufmarsch des „Islamischen Staates“...

Es ist wichtig, dass man den Kampf gegen den IS weitertreibt. Die ganzen Streitereien, die die Libyer jetzt auch über die neue Regierung haben – der IS hat diese Streitereien nicht. Da wird nicht über Kommas in Abkommen gefeilscht, da wird einfach Land genommen, die werden die Ölfelder besetzt und wird versucht die Ölterminals in Ras Lanuf und am Golf von Syrte zu besetzen, um den Ölhandel in ihre Gewalt zu bringen. Die Fragmentierung der politischen Landschaft in Libyen stößt hier auf eine militärische Einheit des IS. Der politische Prozess muss einfach schneller werden und darf nicht eingeholt werden vom militärischen Prozess.

Martin Kobler

Foto: dpa

ist UN-Sonderbeauftragter und Chef der UN-Mission in Libyen. Sie ist rein politisch. 2013–15 führte er als UN-Chef im Kongo noch 20.000 Blauhelme. Davor leitete der 1953 geborene Schwabe die UN-Missionen in Afghanistan und Irak.

Manche Libyer werfen Ihnen vor, das Feld für eine Intervention ausländischer Truppen vorzubereiten. Richtig?

Wir sollten nicht den zweiten vor dem ersten Schritt tun. Es muss eine Regierung her und die muss ihre eigenen Kräfte und ihre Sicherheitsstruktur und den Kampf gegen den IS selber organisieren. Wenn diese Regierung dann später entscheidet, dass sie ausländische Hilfe braucht, warum nicht? Es geht darum, den IS einzudämmen. Libyen ist ein paar Seemeilen von Malta entfernt. Es gibt natürlich europäische Interessen, dass man den IS nicht überschwappen lässt. Es gibt natürlich ein europäisches Interesse, dass ­Libyen nicht das Syrien von morgen wird.

Sind Sie eher ein „Kopf-durch-die-Wand“-Typ?

Ich bin eigentlich ein Konsens­typ und weiß, dass man mit dem Kopf durch die Wand nichts erreicht. Es ist eher meine Sache, sich mit den Menschen zusammenzusetzen, auch mit jenen, die über das libysche Abkommen anderer Meinung sind. Allerdings achten wir auf den Prozess. Und da bin ich vielleicht etwas strikter, als andere sein mögen. Wenn eine Regierung innerhalb von 30 Tagen gebildet werden muss, dann mache ich schon öffentlich klar, dass 30 Tage 30 Tage sind und nicht 300 Tage. Wir müssen die Basis des Abkommens verbreitern und Stämme, Gemeinden, Städte und soziale Gruppen, Frauen- und Jugendorganisationen dazu bringen, dass sie diesen Prozess unterstützen, das klappt manchmal gut, manchmal nicht, da ist viel strategische Geduld erforderlich. Ich bin aber auch der Meinung, dass strategische Geduld manchmal ihre Grenzen haben sollte, und vielleicht kommt daher das „Kopf-durch-die-Wand“-Image.