Jubiläumsbücher zu Frank Sinatras 100.: Der schmächtige Hahn Frankie
Die Sänger- und Schauspielerlegende sorgte für die erste dokumentierte Musik-Massenekstase, wurde vom FBI observiert und soff bis zum Ende.
Die Bobbysoxer sind schuld. Also jene etwa 30.000 weiblichen Teenager (auch dieser Begriff war brandneu), die an einem Herbsttag des Jahres 1944, als man weiße Söckchen („Sox“) zu Schnürschuhen trug, das Jugendmagazin Seventeen erstmalig erschien und die meisten jungen Männer im Krieg und damit weit weg waren, vor dem Paramount Theatre in New York derart laut kreischten, dass es auf den Radiomitschnitten des Abends deutlich zu hören war.
Zu hören ist darauf auch der Grund für die erste dokumentierte Musik-Massenekstase: Frank Sinatra, damals fast 29 Jahre alt, 55 Kilogramm leicht, leuchtend blaue Augen, schmales Kinn.
Sinatra, der „Swooner“ (“to swoon“ bedeutet: begeistert in Ohnmacht fallen). „Swooner Crooner“ hieß ein animierter Kurzfilm von 1944, in dem ein schmächtiger Hahn namens „Frankie“ (!) die Arbeitsmoral eines Bauernhofs durch seine samtige Stimme durchschüttelt: Anstatt Eier zu legen, schwinden den Hennen vor Sehnsucht die Sinne. Schließlich wird Frankie ein „Crooner“, ein etwas kräftigerer Hahn, zur Seite gestellt, und die Eierproduktion steigt ins Unermessliche – wohl vor Entzücken über den Duettgesang.
Der zweite Hahn hieß zwar nicht „Bing“, sollte aber Sinatras segelohrigen Konkurrenten darstellen: Swooner Sinatra gegen Crooner Crosby.
Charles Pignone: „Sinatra 100“. Edel, Hamburg 2015, 39,95 Euro
James Kaplan: „Sinatra – The Chairman“. Sphere Books, 2015
In dem zu Ehren des 100. Geburtstags Sinatras im Edel-Verlag erschienenen Jubiläumsband „Sinatra 100“ findet man ein Zitat Crosbys, dem man trotz Übersetzung und Zeitspanne noch das Unverständnis über den Erfolg des dünnen Mannes aus Hoboken, New Jersey anhört: „Ich denke, es war eine Art Exhibitionismus – alle wollten zeigen, dass sie besser in Ohnmacht fallen und mehr Lärm machen können als die anderen“, räsoniert Crosby über die verzückten Fans. Und irrt gewaltig.
Seine zarte Jungenhaftigkeit
Denn Sinatras Erfolg bei jungen Mädchen hatte nichts mit einer Konkurrenz zwischen Fans zu tun. Sondern damit, dass potenzielle Frauenschwärme vor Sinatra, egal ob Valentino, Clark Gable oder Jean Gabin, von männlichen Studiobossen für Frauen ausgesucht wurden, und zwar gemäß der gängigen Klischees nach Größe, markantem Gesicht, Tatkraft. Sinatra wurde vor allem wegen seiner zarten Jungenhaftigkeit geliebt – dass er später, in den 80ern, reell und musikhistorisch zum Schwergewicht mutierte und stark unter dem Älterwerden litt, ändert daran nichts.
Flüchtlinge haben viel verloren und müssen das betrauern dürfen, sagt der Psychoanalytiker Vamik Volkan. Ein Gespräch darüber, was die Flucht mit der Seele macht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 12./13. Dezember 2015. Außerdem: Rainer Wendt ist Deutschlands lautester Polizist und nie um eine rechte Parole verlegen. taz-Autor Martin Kaul hat den Gewerkschaftsboss begleitet. Und: ein Portrait des schmächtigen Hahns Frank Sinatra – zum hundertsten Geburtstag. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Zu Sinatras oft zitierter Legende, der in dem Buch „Sinatra 100“ außer wunderschöner Bilder nicht viel hinzugefügt wird, gehört auch die Geschichte über seinen traumatischen Start. Am 12.12.1915 gebar die zierliche Dolly Sinatra, die sich unter dem Namen „Hatpin Dolly“ (Hutnadel Dolly) als Engelmacherin und Hebamme durch New Jersey bewegte, ihr über sechs Kilo schweres, einziges Baby. Frank musste mit der Zange aus ihr herausgezogen werden – sodass die linke Wange daher eine Narbe bis zum Ohr zierte, die Sinatra zeit seines Lebens zu verstecken suchte, wie der Autor James Kaplan in der umfassenden Sinatra-Biografie „Frank – The Voice“ behauptet. Der zweite Teil dieser Biografie „Sinatra – The Chairman“ erscheint nun zum 100. Geburtstag und beschäftigt sich weiter intensiv und leidenschaftlich mit dem Star. Und liefert säckeweise kompromittierendes Hintergrundmaterial.
Die Narbe meint man nun auf manchen Fotos tatsächlich zu erkennen – vielleicht ist sie der Grund, weswegen der Sänger sich meist von seiner Schokoladenseite, der rechten, zeigt. Sogar den Kriegsdienst verhinderte die Zangenhausgeburt: Das Trommelfell des Ohrs wurde bei der Geburt zerstört.
Süß wie Schokoladenguss
Der Legende nach erwärmte sich Frankie, der nie Noten lernte, von der musikalischen Mutter unterstützt, schnell für Jazzmusik. 1939 machte er mit dem Frank-Mane-Orchester seine erste Aufnahme – „Our love“, ein harmonisch ungewöhnliches Stück, das Tschaikowskis Ouvertüre „Romeo und Julia“ aufgreift und auf dem der damals 24-Jährige bereits jazzweich, sexy und charakteristisch klingt. Bei dem ebenfalls 1939 entstandenen Song „From the bottom of my heart“ mit dem Harry-James-Orchester haften ihm dagegen noch stark die 30er mit ihrem tremololastigen, romantisch-hohen Balzgesang an.
Bei beiden Songs ist aber bereits hörbar, worauf sich Sinatras Jahrhundertkarriere stützen sollte. Seine Stimme war von jeher emotional, süß wie ein Schokoladenguss. Besonders stark oder durchdringend war sie jedoch nie. Ohne die Hilfe elektronischer Verstärkung – Plattenaufnahmen, Mikrofone und Lautsprecher – hätte man ihn außerhalb Hobokens nie gehört.
Dass Sinatra sich mutmaßlich mithilfe alter „Mobster“-Mafia-Kontakte aus den ungeliebten Big-Band-Verträgen löste, um als Solokünstler durchzustarten, brachte ihm nicht nur eine über 40-jährige FBI-Observierung ein. Die leider kaum kommentierten Faksimiles zerfledderter FBI-Akten stellen einen interessanten Teil des „Sinatra 100“-Buchs dar. Sie stießen ihn aber auch an den Tiefpunkt seiner Karriere.
Republikaner und Anti-Rassist
1951 wollten den umstrittenen Mobsterfreund nicht mal mehr die ehemals kreischenden Teenager hören. Das Geld wurde knapp, die Ehe mit Nancy Senior war gescheitert, die mit Ava Gardner hielt nur kurz, eine Fernsehshow floppte.
Doch Sinatra hatte damals bereits Filmerfahrungen gesammelt – unter anderem in dem 1945 entstandenen, mit einem Ehrenoscar prämierten Kurzfilm „The house I live in“. Darin spielte er sich selbst: Während einer Plattenaufnahme macht er im Hinterhof Zigarettenpause und wird dabei Zeuge, wie ein Junge von einer Gruppe von Schülern gepiesackt wird – aus Antisemitismus, wie er mitbekommt. Nach einer pädagogisch-patriotischen Rede über die Gleichheit der Menschen im Krieg, besser gesagt: der Amerikaner aller Rassen und Religionen – die „Japs“, wie er sie nennt, gehören selbstverständlich nicht dazu – singt er „The house I live in“: „What is America to me? A name, a map, the flag I see, a certain word ‚Democracy„.
Allerdings singt er es in einer anderen Version als das von Abel Meeropol getextete Original, unter anderem ohne die Zeile „my neighbours white and black“. Dennoch hat sich Wendehals Sinatra, Kennedy-Freund und -Campaigner und späterer Reagan-Unterstützer, zumindest zum Thema Rassismus eindeutig ausgesprochen. Unter anderem sang er für die Bürgerrechtsbewegung, für Martin Luther King und weigerte sich stets, in „Whites only“-Hotels abzusteigen.
1952 spielte Sinatra (für eine Praktikantengage von 8.000 US-Dollar) den Private Angelo Maggio im Kriegsdrama „Verdammt in alle Ewigkeit“. Er wurde dafür mit einem Oscar geehrt und war somit wieder zurück im Sattel. In den 50er und 60er Jahren bewegte sich das nun nicht mehr jungenhafte Hutmodel selbstbewusst durch die Unterhaltungsbranche zwischen Las Vegas und dem Fernsehen. Er soff mit den „Rat Pack“-Mitgliedern Dean Martin und Sammy Davis jr., heiratete mit 51 die 30 Jahre jüngere Hippiebraut Mia Farrow, ließ sich stante pede wieder scheiden, zog sich im Jahr 1971 zurück, kam ein Jahr später wieder und bespielte in den 80er Jahren noch einmal mit einer Rat-Pack-Neuauflage Las Vegas.
Drei alte Männer
Auf den Aufnahmen sieht man drei alte Männer mit Whiskygläsern, die nicht mehr cool, sondern traurig aussehen. Martin verließ nach wenigen Gigs die Show – angeblich hatte ihn der Verlust seines Sohns ein Jahr zuvor zu sehr mitgenommen.
Während seines 82 Jahre währenden Lebens wurden ihm Affären mit so ziemlich allen Frauen der Welt angedichtet. Sinatra starb im Mai 1998 und hinterließ offiziell drei Kinder. Gesoffen hat er immer und – als Arbeiterjunge – sich geprügelt ohnehin. Legendär ist ein Spruch des Komikers Don Rickle, der Sinatra bei einem Live-Auftritt im Publikum entdeckte und ihm zurief: „Make yourself at home, Frank. Hit somebody“.
Sein Freund und Gesangspartner Dean Martin, ebenfalls Schmalz in Stimme und Locke, ebenfalls lebergeschädigt, ebenfalls mit italienischen Wurzeln, ließ einst die meistzitierte Wahrheit über den Sänger fallen: „It’s Frank’s world. We’re all just livin’ in it.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Streit um Neuwahlen
Inhaltsleeres Termingerangel
Ringen um Termin für Neuwahl
Wann ist denn endlich wieder Wahltag?
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video
Lehren aus den US-Wahlen
Wo bleibt das linke Gerechtigkeitsversprechen?