Debatte Flüchtlinge in den Medien: Die große Wanderung

Die Welt ist auf der Flucht. Was sagt uns das und was wird geschrieben? Von unbrauchbarer Gedankenlyrik bis zum Tabu der Umverteilung.

Warten auf die Weiterfahrt zur Erstaufnahmestelle: Flüchtlinge am Münchner Bahnhof.

Warten auf die Weiterfahrt zur Erstaufnahmestelle: Flüchtlinge am Münchner Bahnhof. Foto: dpa

Sie sind fett, doof, arbeitslos, wütend oder alles zusammen, die acht Menschen aus der Unterschicht, deren „Sorgen um Deutschland“ mit hässlichen Fotos in der Sonntagszeitung aus dem Hause Springer vorgeführt werden. Zur Deutung ihres uninformierten Gestammels daneben Bild und Artikel über das „hassende Gehirn“: zu wenig Aktivität im frontalen Cortex, zu viel Amygdala. Wer flüchtig hinsieht, denkt: krank eben.

Die „Argumente“ dieser Bekloppten höre ich allerdings auch gelegentlich bei guten Bekannten mit großen Wohnungen und multimedialem Fuhrpark. In der Berliner Sonntagszeitung aus demselben Verlag beschwören im Gegenzug hundert Elitedeutsche Menschenwürde und Solidarität und lassen das Pack richtig übel aussehen. Die Guten, die Schönen, die Hässlichen, die Bösen. Fertig.

Auf der Suche nach einer haltbaren Haltung sichte ich die Intelligenzblätter. In der Zeit raunt der Liebling der Post-Foucault-Generation, Giorgio Agamben: Europa müsse zugrunde gehen, erst dann könne damit eine Politik der Zukunft „eine Lebensform erfinden, die nicht auf der Tat und dem Eigentum begründet ist, sondern auf dem Gebrauch“. Bis dahin könne der denkende Mensch nur im Modus der Flucht leben, nach dem Modell der frühchristlichen Eremiten. Ach ja. Gedankenlyrik, über Jahrtausende gespannt, ohne Verfallsdatum, also unbrauchbar.

Etwas mehr in der Welt gehen die um „Realismus“ bemühten Kommentatoren immer noch davon aus, dass wir es mir einem Notstand, einer Ausnahmesituation, einer Krise zu tun haben. Also humanitäre Hilfe, Übergangslager, Kampf gegen Schlepper, Lockerung oder Verschärfung der Gesetze, Wohnungsbau, Deutschunterricht, schnelle Eingliederung der qualifizierten und jugendlichen Migranten in die Wirtschaft.

Atemlos übers Mittelmeer?

Gut, das ist das Selbstverständliche, also das vom Staat zu erwartende. Und was machen wir mit dem Ressentiment? Im Spiegel erinnert Jakob Augstein daran, was man seit den Studien über die „Autoritäre Persönlichkeit“ von Horkheimer und Adorno wissen kann: Ausgrenzung, Abstiegsangst und Arbeitslosigkeit füttern die Menschenverachtung. Aber, so beklagt er, keine Sozialdemokratie ist in Sicht, die radikal, international und stark genug wäre, die kleinen Leute für ein großes Konzept globaler Gerechtigkeit und Solidarität zu begeistern.

Oder, wie Mark Siemons (in der FAS) formuliert, eine „integrierende Sprache, die dem ökonomischen Selbstlauf ein Gesellschaftsbild entgegenstellt, das die abgehängten Deutschen ebenso wie die Schutz suchenden Nichtdeutschen einschließt“. Bis die Politik sie sprechen lernt, wünscht er sich als vorbereitende Übung – ironisch? – ein Integrationskonzert mit Helene Fischer am Brandenburger Tor. Atemlos übers Mittelmeer?

Ich fürchte, die Befürchtungen nicht nur der prospektiven Konzertbesucher reichen inzwischen weit über das Mittelmeer hinaus; das Wort von der „neuen Völkerwanderung“ kommt in Umlauf. Ich glaube, es trifft – wenn man keine falschen Parallelen zur ersten zieht – die kommenden Dinge genauer als „Krise“ oder „Notstand“.

Kein Aufstand

In einer von Moralisieren und nationaler Engführung freien Analyse umreißt der Philosoph Peter Trawny (in der FAZ) den Knoten aus dem Erbe von Kolonialismus und Imperialismus und den aus ihm gewachsenen Kriegen; den nationalen, den europäischen, den globalen Ungleichheiten; und einem Universalismus, dessen Fundament nicht die schönen europäischen Werte sind, sondern der nur für diejenigen gilt, die „in den ökonomischen Prozessen der Welt irgendeine Rolle spielen“.

Es war die Dynamik dieser Prozesse, die die Grenzen in Europa geschleift, den Wohlstand und die Ungleichheit befördert hat. Es ist diese, nun globale Dynamik, die den Grund und die Legitimation der beginnenden Wanderungen bildet. Die globale Migration ist kein Aufstand. Die Verfolgten, die Armen, die Klimaopfer, die Flüchtlinge aus failed states sind keine Revolutionäre. Sie reklamieren ihren Platz auf dem globalem Markt: als Arbeitende, als Konsumenten.

Die Armen und Elenden ziehen dahin, wo die Arbeit ist – so war es im Amerika des 19. Jahrhunderts, im Ruhrgebiet der Gründerjahre. Nur diesmal werden es mehr sein, die sich auf die Wanderung machen – und diesmal in Gesellschaften, in denen das Arbeiten ebenso prekär geworden ist wie das Wachstum.

Tabu Umverteilung

Tawnys Folgerung: „Sollen die Probleme, die zu neuartigen Flüchtlingsströmen führen und noch führen werden, in deren Herkunftsländern bearbeitet werden, müssen politische Möglichkeiten in Betracht gezogen werden, die die Demokratien unter Umständen an ihre Grenzen treiben könnten. Die Idee einer über die Grenzen Europas hinausgehenden Um- oder Neuverteilung des bestehenden Kapitals und seiner Konkretionen wird aus pragmatischen Gründen kein Tabu mehr sein.“

Sie wird bis auf Weiteres schon deshalb ein Tabu bleiben, weil diese Umverteilung von Lebenschancen selbst in Europa noch eines ist. Sie würde die Wohlstandsgewohnheiten in den reichen Ländern dieses Kontinents massiv infrage stellen: in allen Schichten. Und sie wird auch deshalb bis auf Weiteres ein Tabu bleiben, weil eine solche Umverteilung, sprich eine autonome Entwicklung des Südens kaum ohne massives politisches – und, horribile dictu – militärisches Engagement Europas denkbar ist.

Aber sie ist, auf mittlere Sicht, die einzige Alternative zur militärischen Abriegelung, einem dauerhaften Limes zwischen Europa und den angrenzenden Zonen.

Angesichts der jetzt schon als untragbar apostrophierten „Flüchtlingskrise“ scheinen Gedanken wie die Tawnys viel zu groß und unrealistisch. Aber es hat jeweils 30 Jahre gebraucht, bis Umwelt und Klima politikfähig wurde, wenn auch klappernd. Und deshalb gilt: „Never let a serious crisis go waste.“. Und wenn die Politik seit geraumer Zeit dazu nicht in der Lage ist, dann gilt das umso mehr für diejenigen, deren Beruf das Vorausdenken und die Propaganda für die Zukunft ist. Tätiges Mitleid sollte sich von selbst verstehen, Empörung ist eine Formulierungsfrage, vorausgreifendes Denken ist gefragt. Wir sind erst am Anfang. Wieder einmal.

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