Kommentar Europa und tote Geflüchtete: Zurück zur Vision

Ein Europa ohne einigende Idee wird immer neue Tote produzieren. Mauern werden niemandem helfen, außer vielleicht verbrecherischen Schleppern.

Eine zerrissene Europaflagge hängt in einem Stacheldrahtzaun

Mit einer Installation zeigt das Kollektiv Captain Borderline in Düsseldorf, wo es Europa derzeit sieht. Foto: dpa

Welch eine Tragödie. Tote in einem Lastwagen. Von Verbrechern alleingelassen. Ein tragisches Symbol für die Balkankonferenz, in der sich die Zerrissenheit Europas in der Flüchtlingsfrage spiegelt.

Menschlichkeit verschwindet im Streit über Quoten. „Nationale Interessen“ verhindern jede Debatte. Die Polen verweisen auf Flüchtlinge aus der Ukraine, die Slowaken wollen nur Christen, Franzosen und Briten halten sich bedeckt, Italien fühlt sich überlastet, von Griechenland nicht zu reden. Und die Ungarn bauen eine Mauer, als ob sie den Eisernen Vorhang vergessen hätten.

Vergessen ist fast auch die Konferenz der EU in Thessaloniki von 2003. Damals versprach man den Nachfolgestaaten Jugoslawiens plus Albanien, ihnen den Weg in die EU zu ebnen. Die Menschen hofften; führende Politiker wollten die Bedingungen akzeptieren: Demokratisierung, Rechtsstaat, Menschenrechte und Toleranz den Religionen gegenüber. Es herrschte Hoffnung, Teil eines friedlichen und vereinten Europas zu werden.

Aus dem bald in Sarajevo kursierenden Witz: Wenn Europa nicht zu uns kommt, kommen wir nach Europa, ist bedrückende Wirklichkeit geworden. Die Hoffnungen auf dem Balkan sind in dem Maße verflogen, wie sich das Europa der EU selbst zerlegt hat. Die Visionen sind im Tagesgeschäft untergegangen, im Hickhack um Finanzhilfen und Eurokrise. Europa hat den Glauben an sich selbst verloren. Die Verfestigung des Raubtierkapitalismus und korrupte Regime auf dem Balkan taten ein Übriges.

Mauern werden da nicht helfen. Eine neue Visaregelung wird als Zurückweisung empfunden – und das Chaos verschärfen. Wer Schlepper bekämpfen will, muss auch an die Korruption ran. Albanien, Mazedonien und Kosovo zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, mag zunächst etwas Luft verschaffen. Doch der Plan dürfte am Verfassungsgericht scheitern. Europa muss aus dem kleinlichen Denken raus und zurück zur Vision.

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Erich Rathfelder ist taz-Korrespondent in Südosteuropa, wohnt in Sarajevo und in Split. Nach dem Studium der Geschichte und Politik in München und Berlin und Forschungaufenthalten in Lateinamerika kam er 1983 als West- und Osteuroparedakteur zur taz. Ab 1991 als Kriegsreporter im ehemaligen Jugoslawien tätig, versucht er heute als Korrespondent, Publizist und Filmemacher zur Verständigung der Menschen in diesem Raum beizutragen. Letzte Bücher: Kosovo- die Geschichte eines Konflikts, Suhrkamp 2010, Bosnien im Fokus, Berlin 2010, 2014 Doku Film über die Überlebenden der KZs in Prijedor 1992.

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