Kommentar Tote Flüchtlinge: Schmerzhaft besetzte Leerstelle
Der Umgang mit Toten gehört zu den Grundfesten von Kulturkreisen. Die Aktion des „Zentrums für Politische Schönheit“ zeigt, woran es bisher mangelt.
E s ist oft das Nichtgesagte, das uns zuruft, um was es eigentlich geht. Es ist die Leerstelle, die auf den Kern des Problems verweist. Es sind die toten Leiber, die aufgedunsen am Strand liegen, die in der Sonne verwesen, die stinken und von Insekten befallen sind, die uns zeigen, um was es geht.
Es ist gut, dass die deutsche Öffentlichkeit sich zunehmend mit den Ursachen der Flucht beschäftigt, mit Hunger, Vertreibung und Krieg. Dass Flüchtende auf ihrem Weg begleitet werden, Bilder gezeigt werden von gekenterten Booten und manchmal auch von blauen Säcken, die am Strand liegen. Aber dann hört das Fragen auf.
Was passiert eigentlich mit den Leichen? Jenen, die angespült werden, und jenen, die auf dem Grund des großen europäischen Massengrabs Mittelmeer liegen. Die Behörden vor Ort haben eine einfache Formel gefunden: Wir wollen so wenig wie möglich wissen. Nur so kann man der Bürokratie entkommen, die verlangt, bei Identifizierung die Angehörigen zu suchen, unter Umständen eine Überführung zu ermöglichen oder aber zumindest für ein ordentliches Begräbnis zu sorgen.
Es gibt Grundkonstanten, worüber Kulturkreise definiert werden. Musik gehört dazu, oft ein typisches Getränk, immer aber der Umgang mit den Toten.
Die Aufmerksamkeit heiligt die Mittel
Was sagt es also aus, dass bei uns in Europa die Leichen jener, die hierherkamen auf der Suche nach einem besseren Leben, verscharrt werden wie Dreck, in anonymen Massengräbern, so billig wie möglich? Das Wegsehen fällt in Deutschland besonders leicht. Hier gibt es das Problem Flüchtlingsleiche nicht.
Diese Leerstelle nutzt das Zentrum für Politische Schönheit erneut für eine spektakuläre Aktion. Tabus kennen die Politaktivisten nicht. Im Gegenteil. Die gewonnene Aufmerksamkeit heiligt die Mittel. Darf man dabei über Leichen gehen? Ist nicht irgendwo Schluss mit der Instrumentalisierung von Opfern? Die Aktion „Die Toten kommen“ geht an die Grenze.
Zynisch ist nicht dieses Projekt. Zynisch ist eine Gesellschaft, die buchstäblich über Leichen stolpern muss, um hoffentlich wahrzunehmen, dass die Flüchtlinge keine statistische Größe sind, sondern Menschen, die ein Recht auf unsere Unterstützung haben. Und denen man auch über ihren Tod hinaus mit Würde begegnen muss, wenn man denn das Grundgesetz achtet, nach dem die Würde des Menschen unantastbar ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen