Das Wochenende in Ägypten: Jeder Tote ein Märtyrer

Bei schweren Auseinandersetzungen gibt es mindestens 80 Tote. Muslimbrüder und Militär geben sich gegenseitig Schuld.

Der Sonntag in Nasr-City, nahe Kairo. Bild: reuters

KAIRO taz | Fast könnte man meinen, auf dem Kairoer Tahrirplatz herrsche am Sonntag Alltag. Sogar für den Straßenverkehr sind Teile des Platzes wieder geöffnet. Nichts weist auf die Unruhen von Freitagnacht hin, die schwersten, die Ägypten seit der Entmachtung Mohammed Mursis am 3. Juli erlebt hat.

Kritik am rabiaten Vorgehen der Sicherheitskräfte ist hier am Tahrirplatz, wo die Kritiker der Muslimbrüder demonstrieren, nicht zu hören. „Was würden Sie denn machen, wenn Sie angegriffen würden?“, fragt ein Verkäufer ruhig, der in einer Nebenstraße Saft verkauft. Er kramt eine Zeitung hervor. Das Titelbild zeigt steinewerfende Jugendliche, wohl Anhänger des abgesetzten Präsidenten. „Das war reine Selbstverteidigung.“

Mindestens 72 Menschen sind in der Nacht zu Samstag bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und Mursi-Anhängern allein in Kairo getötet worden. Die Muslimbrüder, die die Proteste gegen das Militär anführen und kompromisslos die Wiedereinsetzung Mursis fordern, sprechen gar von über 100 Toten.

Auch in Alexandria, der zweitgrößten Stadt des Landes, kam es zu tödlichen Zusammenstößen. Acht Menschen verloren dort in einer zehnstündigen Straßenschlacht zwischen Anhängern und Gegnern Mursis das Leben. Mindestens 800 Menschen wurden in beiden Städten verletzt.

Schuldzuweisungen von allen Seiten

So eindeutig wie für den Verkäufer am Tahrirplatz ist die Lage jedoch nicht. Für die Eskalation in Kairo machen sich Polizei und Mursi-Anhänger gegenseitig verantwortlich. Die Gewalt war am frühen Samstagmorgen in der Nähe eines Protestcamps im Kairoer Randbezirk Nasr City ausgebrochen, in dem die Unterstützer Mursis seit Wochen ausharren. Innenminister Mohammed Ibrahim warf den Mursi-Anhängern vor, das Blutvergießen provoziert zu haben. „Wir sind nicht zu ihnen gegangen, sie kamen zu uns“, sagte der Minister.

Die Muslimbruderschaft dagegen besteht darauf, dass die Polizei das Feuer auf friedliche Demonstranten eröffnet habe, was Ibrahim mit dem Hinweis zurückwies, sie habe lediglich Tränengas eingesetzt.

Die Mursi-Anhänger sollen versucht haben, eine Hauptstraße in der Nähe ihres Protestcamps zu blockieren. In den vergangenen Wochen hatten sie immer wieder Straßenblockaden errichtet. Zudem sei es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit örtlichen Bewohnern gekommen.

In Alexandria lieferten sich Anhänger und Gegner Mursis bereits von Freitagnachmittag bis in den frühen Samstagmorgen eine erbitterte Straßenschlacht. Zum größten Teil nur mit Steinen, teilweise aber auch mit Messern, Schwertern und Schusswaffen ausgestattet, gingen sie aufeinander los. Die Sicherheitskräfte schritten nur am Rande ein und versuchten zaghaft, die Lager mit Tränengas auseinanderzutreiben.

Armeechef heizt die Stimmung an

Zu den Unruhen war es am Rande von Massendemonstrationen gekommen, zu denen erstmals Armeechef Abdel Fattah al-Sisi selbst aufgerufen hatte. Dem waren am Freitag Hunderttausende gefolgt. Das Volk sollte den Sicherheitskräften das Mandat erteilen, es vor „Gewalt und Terrorismus“ zu schützen.

Die Muslimbruderschaft allerdings kritisierte die Aufforderung al-Sisis als „offenkundigen Aufruf zum Bürgerkrieg“ und mobilisierte zu Gegenprotesten.

Der Gewaltexzess vom Wochenende erinnert an die Auseinandersetzungen vor der Republikanischen Garde in Kairo. Am 8. Juli waren dort 53 Menschen getötet worden, als Sicherheitskräfte auf Mursi-Anhänger schossen. Menschenrechtsorganisationen sowie der britische Guardian, der den genauen Ablauf zu rekonstruieren versuchte, machten zu einem großen Teil die Sicherheitskräfte für die Eskalation verantwortlich.

Nun dürfte die Wut der Mursi-Anhänger erst recht anhalten. Jeder Tote aus ihren Reihen gilt als Märtyrer im Kampf gegen die Militärherrschaft. Die Opfer vom Wochenende sind ein weiterer Anreiz, in den Protestcamps auszuharren, auch wenn sich bei vielen die Einsicht durchgesetzt haben mag, dass die Wiedereinsetzung Mursis als Präsident so gut wie ausgeschlossen ist. Doch darum geht es im Kräftemessen zwischen Islamisten und Nichtislamisten längst nicht mehr.

Protestlager sollen aufgelöst werden

Entscheidend wird sein, ob Innenminister Ibrahim mit seiner Ankündigung ernst macht, die Demonstrationen der Mursi-Anhänger zu unterbinden. Am Wochenende sagte er, die Protestlager in Nasr City und nahe der Kairo-Universität würden „sehr bald im Rahmen des Gesetzes“ aufgelöst. Dabei werde die Polizei versuchen, dass es „so wenig Opfer wie möglich“ gebe.

Sollten die Sicherheitskräfte tatsächlich gegen die Camps vorgehen, sind schwere Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Für die Mursi-Anhänger wäre eine gewaltsame Räumung der letzte Beweis, dass die Armeeführung und die von ihr eingesetzte Übergangsregierung den Weg der Unterdrückung gewählt hat.

Inmitten der Polarisierung zwischen den beiden Lagern haben Aktivisten unterdessen die Initiative „Dritter Platz“ ins Leben gerufen. Zeitgleich mit den Massenprotesten für oder gegen das Militär demonstrierte sie am Freitag auf dem Kairoer Sphinx-Platz gegen das Militär und auch gegen die Mursi-Anhänger. Es kamen aber nur einige Dutzend.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.