Geograf über Kontinente und Grenzen: „Europa ist eine wirkmächtige Fiktion“

Mayotte, eine Insel im Indischen Ozean, ist Mitglied der EU. Die Türkei nicht. Für Hans-Dietrich Schultz nur ein Beleg für willkürliche Entscheidungen.

Island ist Teil Europas. Warum eigentlich? Bild: photocase/dioxin

taz: Herr Schultz, ist Europa geografisch gesehen ein Kontinent?

Hans-Dietrich Schultz: Schon die Frage ist falsch gestellt.

Aha. Warum?

Weil Sie davon ausgeht, dass es auf die Frage eine einzige richtige Antwort gibt. Das erwartet man zwar vom Geografen, aber ich muss Sie enttäuschen. Fragen Sie lieber: Wer hat Europa wann aus welchem Interesse heraus wie abgegrenzt?

Die Frage dürfte schwer zu beantworten sein.

So schwer ist das nicht, man kann es genau nachzeichnen, aber es wird dann eine lange Antwort. Kürzere Antworten kriegen Sie aus jedem Erdkunde-Schulbuch, nur fehlt Ihnen dann der Clou, dass es die eine richtige Antwort nicht gibt.

Wenn die Geografie sich einer Antwort entzieht, versuchen wir es mit Geschichte. Wann entstand Europa als politisches Bewusstsein?

Vermutlich mit den Kreuzzügen, später im Kampf gegen das Osmanische Reich. Als sich Russland mit Zar Peter dem Ersten im 18. Jahrhundert nach Westen öffnete, brauchte er eine Grenze zwischen Europa und Asien und bekam sie von Geografen mit dem Uralgebirge und dem Lauf der unteren Wolga geliefert. Doch die Grenze zu Asien blieb umstritten und Gegenstand oft umständlicher gelehrter Auseinandersetzungen. Dabei kam auch die Idee auf, dass Europa nur eine Halbinsel am westlichen Rande Asiens wäre und es nur einen Kontinent Eurasien gebe. Eigentlich müsste man, wenn als Kontinent nur große Landmassen gelten, die ringsum von Wasser umgeben sind, sogar von Eurafrasien sprechen – denn Afrika und Asien hängen auch zusammen. Auch das haben Geografen früher durchgespielt.

66, ist emeritierter Professor für Didaktik der Geografie am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat vor allem zur Geschichte der Geografie und Schulgeografie publiziert.

Hier geht es zur Bildergalerie „Europa – grenzenloser Kontinent“.

Und hier geht es zum Europarundgang in Karten.

Also ist Europa eine Fiktion?

Ja, aber eine wirkmächtige.

Die Ränder im Osten und Südosten sind prekär. Aber es gibt doch Teile, die unzweifelhaft Europa sind …

Na ja, was heißt schon sind? Solche feststehenden Aussagen bezüglich definierter Räume sind unsinnig. Feststellen lässt sich, dass bestimmte Räume bei allen Gliederungen dabei waren, wie unterschiedlich Europas Grenzen auch gezogen wurden.

Von Spanien bis Polen, von Italien bis Norwegen, das ist doch unstrittig Europa?

Mit unstrittig ist das so eine Sache. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde beispielsweise noch diskutiert, ob Spanien nicht eher afrikanisch sei, jedenfalls Europa ziemlich fremd gegenüberstehe. Denken Sie auch an die Konstruktion des Mittelmeerraums als ein selbstständiger geografischer Raum, der auch Nordafrika und die Levante einschloss. Die Schulbücher von heute akzeptieren zwar, dass die Grenzen Europas im Osten eine Konvention sind. Für den Norden, Westen und Süden sehen sie dagegen keine Probleme. Da werde Europa von Meeren begrenzt. Das ist Quatsch.

Wieso?

Weil es eine Entscheidung ist, dass wir Großbritannien oder Island zu Europa zählen, oder auch Lampedusa und neuerdings Zypern, das lange Zeit meist Asien zugerechnet wurde. Das sind keine geografischen Fakten, sondern Setzungen. Jede Insel ist von Wasser umgeben. Warum sind Inseln keine Mikrokontinente neben den Makrokontinenten? Wie groß muss ein Gebiet sein, um als Kontinent durchzugehen? Grönland wird nicht Kontinent genannt, für Australien reicht es noch.

Europas Ostgrenze

Wir haben in der Schule gelernt: Europa endet im Osten am Uralgebirge.

Auch das ist nur scheinbar wissenschaftlich gesichert. Machen wir einen Test: Welcher Berg ist der höchste Berg Europas?

Der Montblanc in den Alpen.

Das wird heute meist so gesehen. Ich selbst habe in der Schule noch den Elbrus gelernt. Es gibt aber keine richtige Antwort. Denn die hängt immer davon ab, wo man Europas Grenzen fixiert. Wenn wir im frühen 20. Jahrhundert dem österreichischen Kulturgeografen Erwin Hanslik oder im frühen 19. Jahrhundert dem preußischen Generalleutnant Rühle von Lilienstern folgen, dann ist der Pik Ismail Samani im heutigen Tadschikistan der höchste Punkt Europas. Seit Langem wird versucht, Europa geografisch zu definieren. Vergeblich! Auch Mischungen aus Geografie, Kultur und Wirtschaft brachten völlig verschiedene Ergebnisse.

Vor allem im Osten?

Ja, in den letzten 200 Jahren schwankten die Europadefinitionen im Osten extrem. Manchmal endet Europa an der Donaumündung, manchmal weit hinter dem Ural. Ewald Banse, ein späterer NS-Geograf, entwarf 1912 ein Klein-Europa, das etwa 3.600 Kilometer in der Ost-West-Ausdehnung misst und im Norden an der finnischen Grenze endet. Wilhelm Müller-Wille, Direktor des Geografischen Instituts in Münster, ließ sein Groß-Europa 1963 bis zum Jenissej in Sibirien reichen – das sind mehr als doppelt so viele Kilometer wie bei Banse.

Mit welcher Begründung?

Müller-Wille vertrat ein kulturgeografisches Konzept. Die Ostgrenze war für ihn eine Bewegungsgrenze. Sie reichte so weit, wie die aktuelle Besiedlung und der Getreideanbau reichten. Es gab aber auch das kulturgeografische Klein-Europa des Geografiedidaktikers Jürgen Newig von 1986, der an der Westgrenze der Sowjetunion Halt machte. Das Baltikum war da kein Teil des „christlichen Kulturerdteils“ Europa, sondern des „kommunistischen Kulturerdteils“. Nach der Implosion der Sowjetunion wurde das korrigiert. Newigs umstrittenes Konzept hat über Schulmedien des Klett-Verlags weite Verbreitung gefunden. Heute ist es still darum geworden. Schauen Sie sich hier den Fünf-Euro-Schein an, noch alte Ausführung.

Was sehen wir da?

Nicht die EU, denn dann müssten etwa die Schweiz oder Norwegen fehlen. Die Karte auf dem Schein soll also eine Karte des geografischen Europas sein. Und dieses Europa endet im Osten etwa 1.500 Kilometer vor dem Ural und noch vor Moskau. Andererseits sind aber Madeira, die Azoren und die Kanaren als kleine Punkte verzeichnet. Die Türkei ist jenseits des Bosporus grafisch anders gehalten – gehört laut Euroschein also nicht zu Europa, ebenso nicht Nordafrika. Dafür finden sich am unteren Rand eingekästelt Guayana, Guadeloupe, Martinique und Réunion, die in Südamerika beziehungsweise der Karibik liegen, aber weil sie politisch ein Teil Frankreichs sind, somit zur EU gehören, auf dem Euroschein einfach Europa zugeschlagen werden.

Warum ist es wichtig, welche Grenzen Europa auf solchen Karten hat?

Weil damit definiert wird, wer dazugehört und wer nicht, wer drinnen ist und wer draußen bleibt. Die Exwissenschaftsministerin Annette Schavan hat in Bezug auf eine EU-Mitgliedschaft der Türkei einmal gesagt, dass wir nicht nur auf die EU-Beitrittskriterien schauen sollten, sondern auch die Geografie befragen müssten. Aber wie wir schon festgestellt haben, gibt es das eine geografische Europa nicht! Frau Schavan ist also mit der Geografie nicht geholfen. Auch Helmut Kohl nicht, der einmal gesagt hat, er habe in der Schule nicht gelernt, dass die Türkei zu Europa gehört.

Das stimmte wohl.

Richtig! Aber Schulbuchwissen taugt nicht für politische Auseinandersetzungen. Politiker, die auf die scheinbar objektive Geografie verweisen, um sie von Europa fernzuhalten, wollen einfach nur die brisante ethnisch-kulturelle und religiöse Debatte über die EU und die Türkei vermeiden.

Die Geografie gibt also keine Antwort auf die Frage, ob die Türkei zu Europa gehört oder nicht?

So ist es. 2011 ist Mayotte der EU beigetreten, eine Insel, die mit der Komorengruppe im Indischen Ozean zwischen Afrika und Madagaskar liegt. Die Komoren, eine ehemalige französische Kolonie und heute ein selbstständiger Staat, halten das für neokolonial und beanspruchen Mayotte. Mayotte gehört also nun zur EU – aber die Türkei soll aus geografischen Gründen nicht EU-Mitglied werden können? Wie abstrus! Wer sich an den Bosporus stellt und ergriffen meint, nach Asien zu blicken, hat nichts verstanden.

Der Bosporus ist keine natürliche Grenze Europas?

Nein. Das ist ein breites, abgesoffenes Flusstal aus dem Pliozän, geologisch interessant, aber mehr nicht.

Zumal dann auch Großbritannien geografisch nicht in die EU gehört.

Bei den Britischen Inseln könnte man noch argumentieren, dass sie immerhin auf dem Festlandsockel liegen. Das trifft für Island und andere Inseln und Inselgruppen aber nicht zu.

Bei der Fußball-Europameisterschaft nehmen auch Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Kasachstan teil, sogar Israel. Was ist das für ein Europa-Konzept?

Das ist eine politische Entscheidung. Die ersten drei Staaten wären immerhin früher, als noch der Kaukasus als Grenze akzeptiert war, geografisches Europa gewesen. Außerdem sind sie im Europarat. Und Israel: Wer wollte mit ihm in Nahost um eine Meisterschaft spielen?

Und Kasachstan zählt nicht zu Asien?

Es gibt einen Zipfel Kasachstans, der aus Wüste und Steppe besteht. Der liegt, legt man sich auf den Uralfluss als Grenze fest, noch in Europa. Noch mehr Kasachstan wird zu Europa gezählt, wenn der Fluss Emba östlich des Uralflusses zum Grenzfluss erklärt wird. Das geschieht gelegentlich auch.

Ist Geografie Macht?

Aber sicher! Der 1911 ins Leben gerufene Verband deutscher Schulgeografen warb zu seiner Gründung mit der Parole: „Wissen ist Macht, geografisches Wissen ist Weltmacht!“ Über Karten werden Weltbilder in die Köpfe gebracht.

Und wie markiert man Grenzen, ohne ideologische Muster zu bedienen?

Man könnte Grenzen mit Längen und Breitengraden bezeichnen. Aber selbst die Festlegung des Nullmeridians war einst ein Politikum. Interessant ist, dass Geografen oft bewusst war, dass sie willkürliche Grenzen ziehen, gerade im Osten. Alfred Philippson, eine Koryphäe unter den Geografen, der Theresienstadt überlebt hat, schrieb 1894, dass sich „die Selbstständigkeit Europas“ trotz der willkürlichen Grenzen wohl begründen lasse. Trotz fließender Übergänge sei Europa in allen seinen Verhältnissen, physisch, historisch und kulturell, vom asiatischen Charakter verschieden. Steppen etwa verlören in Europa „ihre strenge asiatische Form“ und würden „fast durchweg dem Ackerbau zugänglich“.

Und?

Das war der Versuch die geografischen Großräume mit qualitativen Eigenschaften auszustatten, so als wären es Personen. Deshalb ist die ungarische Steppe für Philippson etwas anderes, als es die asiatischen Steppen sind. Deshalb erklärte uns noch 1977 Emil Egli, ein Schweizer Geograf der alten Schule, die von außen einströmenden Völker – die Hunnen, Awaren, Magyaren – würden durch die Natur Europas zu europäischen Völkern umgeschaffen.

Hatte Europa noch weitere qualitative Eigenschaften?

Für die klassischen Geografen war Europa klein, aber fein. Es besaß viel gegliederte Küsten, zahlreiche Halbinseln, eine abwechslungsreiche Landschaft, ein gemäßigtes Klima, alles Faktoren, die die Kulturentwicklung begünstigten. Die anderen Kontinente seien dagegen weniger gegliedert, Asien von monströser Gestalt, Afrika einförmig und plump. Und wie das Land, so seien auch seine Bewohner. Der Fortschritt der Menschheit war aus dieser Sicht nur durch Europa möglich, Europa hat die Arbeit erfunden, Asien nicht, schrieb ein Geograf im 19. Jahrhundert. Das liest man aber so oder ähnlich bei fast allen wegweisenden Geografen bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein. Gelegentlich auch noch später.

Das ist ein imperiales Konzept.

Das ist der Beitrag der früheren Geografie zur Rechtfertigung der Europäisierung der Welt durch den Kolonialismus. Die Tropen machen die Menschen träge und faul, in der kalten Zone müssen die Menschen nur arbeiten, um zu überleben. In Europa, besonders dem mittleren, sind die geografischen Verhältnisse dagegen so beschaffen, dass die Kultur hier vorankommen konnte. Das war Mainstreamdenken. Das diente auch dazu, Russland aus Europa herauszudefinieren: Hier das feingliedrige, formenreiche „Schatzkästlein“, das „Halbinsel-Europa“, dort die endlose Weite der russischen Steppe. Hinter Weichsel und Bug begann für den Geografen „Halb-Asien“, dem übrigen Europa ganz fremd.

Und die Mitte Europas, ist sie mehr wert als der Rand?

Um die Mitte reißen sich alle. Der ehemalige rumänische Präsident Iliescu hat einmal darauf bestanden, dass Rumänien nicht Südosteuropa sei, sondern Südmitteleuropa. Südosteuropa, das seien Armenien, Georgien und Aserbaidschan. Rumänien sollte nicht zum Rand zählen. Hält man sich aber an das gegenwärtige Schulbucheuropa, dann sind die drei Staaten überhaupt kein Europa mehr, sondern schon Asien, weil das Schulbucheuropa heute meist an der Manytsch-Niederung, nordöstlich des Schwarzen Meeres endet und nicht mehr am Kaukasus.

Spielen Vorstellungen von Europa als geografisch besonders wertvollem Kontinent 2014 noch eine Rolle?

Nicht in der Wissenschaft. Die Idee, die auch Napoleon liebte, dass die Geografie das Schicksal der Völker diktiere, ist erledigt. Der Geograf von heute weiß, dass Räume gemacht werden und nicht einfach sind, dass Geografie Politik nicht ersetzen kann.

Und jenseits der Wissenschaft?

Wenn man manche Debatten über Russland, die Türkei oder den Mittelmeerraum verfolgt, drängt sich schon gelegentlich der Eindruck auf, dass altgeografische Ideen noch ziemlich lebendig sind. Im hartnäckigen Klischee von den faulen Südeuropäern, die unser Geld durchbringen, schimmert wohl noch immer die klassische, alte Klimatheorie durch, die in den heißen Zonen im Süden die Faulheit zu Hause weiß.

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