: Die Trauer verblasst
Hatun Sürücü starb am Rand des Tempelhofer Oberlandgartens. Am Tatort erinnert nichts mehr an die Bluttat. Blumen verschwinden so schnell, wie sie hingelegt werden
Das Viertel, in dem Hatun Sürücü lebte und starb, liegt eingezwängt zwischen Flughafen und Autobahn am nordöstlichen Rand Tempelhofs. Die Hauptverkehrsader, die Oberlandstraße, durchquert den Kiez entlang graubrauner Häuserzeilen. Dazwischen eine kleine Lücke, eine winzige Grünfläche und ein Parkplatz. Dort an einer Bushaltestelle, an der Ecke zum Oberlandgarten, starb die junge Frau heute vor zwei Jahren – erschossen von ihrem eigenen Bruder, weil sie sich von den religiösen Vorstellungen der Familie abwandte. Zwei Tage vor dem Jahrestag erinnert nichts mehr an die Bluttat: kein Hinweis, keine Gedenktafel, keine Blumen.
Der Tatort ist an diesem nasskalten Februarnachmittag menschenleer. Nur wenige verirren sich auf die Straße – wenn, dann zu Lidl auf die andere Straßenseite oder zu einem Schwatz am Kiosk. Gleich um die Ecke: Sürücüs letzter Wohnort. Ganz unten in der Bacharacher Straße 42, knapp hinter der Lärmschutzwand der Autobahn, lebte die 23-Jährige bis zu ihrem Tod. Auch hier beherrscht die graubraune Fassade der dreistöckigen Wohnanlage die Szenerie. Der süßliche Geruch von Keksen aus der nahe gelegenen Bahlsen-Fabrik steigt einem in die Nase. Kleine Häuser, eine Apotheke, Bäckerei und Kiosk bilden auf der anderen Straßenseite das Zentrum des Viertels.
Dort trifft man dann auch Menschen: Der Kiosk-Betreiber erzählt, dass Leute immer wieder Blumen an den Tatort gelegt haben. Diese seien aber meist nach einem Tag von Unbekannten wieder entfernt worden. Ein junges Paar berichtet, dass sie vor einem Monat zum letzten Mal Blumen und ein Kreuz dort gesehen hätten. Man munkelt, jemand wolle das Gedenken an Sürücü verhindern. Die Bauarbeiter, die hier ihren Kaffee trinken, meinen, dass es im Viertel ohnehin größere Probleme gebe als den Ehrenmord. Ein Arbeitsloser sorgt sich seit dem Mord um seine Sicherheit, seine Wohnung verlässt er nur noch tagsüber. Redselig sind sie alle nicht.
So wie einige Engagierte hat auch die ehemalige Ausbildungsstätte Sürücüs in der Muskauer Straße an sie gedacht. Bis zum Jahreswechsel hing dort, von außen sichtbar, ein großes Portrait Sürücüs, daneben lagen Blumen. Jetzt hat man es abgenommen, die Zeit der Trauer sei nach knapp zwei Jahren vorbei.
Heute um zehn Uhr veranstalten die Grünen anlässlich des zweiten Todestags eine Mahnwache am Tatort, in der Oberlandstraße, an der Haltestelle Oberlandgarten des Busses 246.
ROMAN SCHMIDSEDER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen