: Hoffnung ist ein rares Gut
Niemand im Gaza-Streifen ist bloß wütend. „Das Stadium haben wir hinter uns“, sagt ein Arzt aus Gaza-City. „Eine kollektive Depression hat uns erfasst“
aus Gaza YASSIN MUSHARBASH
Walid Ma'tuq würde gern wieder einmal ein Fußballspiel von Maccabee Tel Aviv sehen. Live, im Stadion, mit seiner Frau und seinen israelischen Freunden. Wie früher. „In dieser Saison wird das wohl nichts mehr“, spottet der 31-Jährige.
Walid ist seit acht Monaten, seit Beginn der Al-Aksa-Intifada, im Gaza-Streifen eingesperrt. Eigentlich lebt er in Jaffa, wo er mit einer palästinensischen Israelin verheiratet ist und in einem Restaurant arbeitet. Jetzt sitzt er tagein, tagaus im Café Titanic in Gazas boulevardähnlicher Omar-al-Mukhtar-Straße, liest die Zeitung und träumt von seiner Nadia. Sein Job in Jaffa wurde mittlerweile an einen anderen vergeben. „Schwarz, wie Scharons Seele“, ruft er dem Kellner zu, als er Kaffee bestellt.
Walid kann nicht nach Jaffa zurück, weil die israelische Regierung palästinensischen Arbeitern die Rückkehr nach Israel verboten hat. Nadia darf nicht nach Gaza kommen, weil israelischen Bürgern die Einreise in autonome palästinensische Gebiete untersagt ist. „Während der ersten Intifada habe ich wie jeder andere Steine geworfen“, erinnert sich Walid. „Aber wirklich gehasst habe ich die Israelis, als ich das erste Mal verliebt war und die Soldaten mir verboten, mit meiner Freundin am Strand den Sonnenuntergang zu betrachten. Jetzt geschieht mir dasselbe ein zweites Mal.“
Gaza könnte eine hübsche Stadt sein. Es gibt palmengesäumte Flaniermeilen und grüne Parks mit Meerblick. Doch die Hälfte aller Geschäfte ist geschlossen, weil es keine Kunden gibt. Der Sandstrand sieht einladend aus, aber wenn der Wind abends heftig weht, ist er am Morgen voller Minen, die die aufgewühlte See angespült hat. Die palästinensische Autonomiebehörde gibt sich große Mühe, eine Illusion von Normalität aufrechtzuerhalten: Zerbombte Gebäude in Gaza-City würden über Nacht repariert, berichten Anwohner. Doch es lässt sich nicht verbergen, dass es hier längst keinen Alltag mehr gibt. Massenarbeitslosigkeit, tägliche Ausschreitungen und die ständigen Bombardements haben dazu geführt, dass Gaza heute eher an Beirut als an ein Touristenparadies erinnert.
„Das ist keine Intifada mehr“, sagt Awwad Shabat aus Beit Hanun im nördlichen Gaza-Streifen, „das ist ein Krieg!“ Mit einer mutlosen Geste deutet der 27-Jährige auf drei Hügel aus Schutt, Schrott und Geröll. Darunter begraben liegen sein Haus, sein Laden und seine Hühnerfarm. Eine verbogene Pfanne schaut aus dem Haufen hervor, zwei vertrocknete Fische liegen darin.
Ein halbes Dutzend israelischer Panzer und zwei Planierraupen sind über seinen Besitz gefahren, als die Armee Mitte April beschloss, den Mörserattacken auf israelische Siedlungen ein Ende zu machen. Die Militärs meinten, in Beit Hanun eine Quelle der Angriffe auszumachen. „Die erste Granate hat die benachbarte Polizeistation getroffen, die zweite den Brunnen meines Nachbarn, die dritte meinen Laden“, berichtet Awwad. „Ich lief aus dem Haus und sah, dass Panzer auf uns zurollten. Da bin ich geflohen.“ Zwanzig Wohnhäuser, zwei Brunnen, eine Polizeistation, drei Hühnerfarmen sowie hunderte Obstbäume fielen der 24 Stunden dauernden Besetzung zum Opfer.
„Wie Sardinen!“
„Selbst wenn es stimmt, dass von der Polizeistation aus Mörser abgeschossen wurden, ist das kein Grund, mein Hab und Gut und meine Zukunft zu zerstören“, empört sich Awwads ehemaliger Nachbar Omar Abu Amjad. Awwad und Omar sind bei Verwandten untergekommen. Der eine lebt jetzt mit 15, der andere mit 19 Familienmitgliedern in einem Zimmer. „Wie Sardinen!“, sagt Awwad und tritt zornig gegen ein zerborstenes Tischbein.
Das platt gewalzte Areal in Beit Hanun hat die Größe von zwei Fußballfeldern. Die vertriebenen Bewohner kommen tagsüber zurück, um zu verhindern, dass jüdische Siedler das Land übernehmen. Stumm nicken sie einander zu. Sie klauben das Holz der entwurzelten Orangenbäume zusammen, und verkaufen es auf dem Markt von Beit Hanun. Ihr einziges Einkommen.
„Ich lebe jetzt in einem Zelt, das schon der Wind umbläst“, sagt Mahmud Abu Sultan aus dem benachbarten Beit Lahia. Seine Familie und die seines Bruder, insgesamt 23 Personen, verloren ihr Dach über dem Kopf, als die neben ihren Häuschen stehende Polizeistation bombardiert wurde. Er und seine Frau sahen gerade fern, als unvermittelt eine Granate ihr Haus entzweiriss. Mahmud fiel ein Mauerstück auf sein rechtes Bein. Er wird für immer hinken. Seine Frau hat ihr Gehör verloren. Wenn in der Nachbarschaft eine Autotür laut zugeschlagen wird, beginnen ihre Kinder zu weinen. Das Rote Kreuz hat Zelte und Kleidung geschickt. „Wir sind dankbar“, erklärt Mahmuds Bruder Khamis, „aber es wäre besser, wenn man uns helfen würde, bevor so etwas geschieht. Warum sagt Präsident Bush den Israelis nicht, sie sollen ihre Siedlungen auflösen?“
In Gaza leben über eine Million Palästinenser und 6.000 Siedler, deren Mehrheit in einem Siedlungsblock im Süden des Gaza-Streifens wohnt.
„Ohne diese Siedlungen würde hier Frieden herrschen“, glaubt Magdi Fu'ad, ein Taxifahrer, der die Strecke zwischen Gaza-City und dem Flüchtlingslagern Khan Yunis im Süden bedient. Für den 25 Kilometer langen Weg hat Magdi heute vier Stunden benötigt. „Überall Checkpoints“, stöhnt er. „Die Soldaten schauen dich an und beraten sich, ob sie dein Auto kontrollieren oder lieber ein anderes. Aber das ist egal, man steckt ja ohnehin im Stau. Und wenn die Soldaten eine Meldung bekommen, dass ein Siedler passieren möchte, sperren sie die Straße für Stunden.“
Vor der Intifada füllten die Reisenden zwischen Norden und Süden etwa 200 Sammeltaxis täglich, sagt Khalid, Magdis Boss. Mit Blick auf einen Schreibblock in seiner Hand stellt er fest: „Genau vier Taxis sind seit heute früh um vier abgefahren.“ Davon kann keiner der Fahrer leben. „Wir essen nichts als getrockneten Thymian mit Brot“, wirft ein Kollege von Magdi ein. Die Einwohner des Gaza-Streifens verlassen ihre Wohnorte nur noch zu dringenden Anlässen. „Meistens Krankenbesuche und Beerdigungen“, erläutert Magdi. „Selbst wenn ich eine Fuhre zusammenhabe und mich über das Geld freue, muss ich traurige Geschichten hören.“
Niemand in Gaza ist bloß wütend. „Das Stadium haben wir hinter uns“, erklärt Ali Bilbeisi, ein Frauenarzt, der im Schifa'-Krankenhaus in Gaza-City arbeitet. „Eine kollektive Depression hat Gaza erfasst. Wir sind dabei zu vergessen, dass wir lachen müssen, dass wir Träume brauchen.“ Der kleine, dicke Mann ist so etwas wie ein Kämpfer für Ausgelassenheit inmitten der Intifada. Nicht jeder findet es angebracht, dass Dr. Bilbeisi in aller Öffentlichkeit lacht, wenn ihm danach ist. Er arbeitet so viel wie möglich ambulant und von zu Hause aus, um den schrecklichen Bildern in der Notaufnahme zu entgehen. „Wenn ich mich umsehe, sehe ich nur Menschen, deren Träume zerplatzt sind“, sagt Ali Bulbeisi leise. „Was wir zurzeit durchleben, ist ein psychologischer Zermürbungskrieg, den wir nur gewinnnen können, wenn wir nicht vergessen, dass wir Menschen sind“, findet er. Und tatsächlich gelingt es ihm, ein bisschen zuversichtlich zu klingen.
„Das schlimmste sind die Viren“
„Vor ein paar Jahren war auch ich ein großer Optimist“, erklärt Muhammad al-Gharusche, der zwei Straßenblocks von Dr. Bulbeisi entfernt lebt. Muhammad studierte Maschinenbau in Athen und kehrte 1994 nach Gaza zurück, als der Streifen zum autonomen Gebiet wurde und Arafat hier seinen Palast am Meer bauen ließ. Im August letzten Jahres, vier Wochen vor Ausbruch der Intifada, erfüllte er sich seinen lang gehegten Traum und eröffnete ein Internet-Café. „Das neueste von ganz Gaza!“, sagt der 30-Jährige stolz und deutet auf zehn modern gestaltete Computernische. Doch das Geschäft geht schlecht. „Alle Welt kommt herein, liest kurz die Nachrichten und geht wieder“, sagt Muhammad. Vier Schekel kostet eine Stunde Surfen hier, das sind zwei Mark. Doch kaum jemand bleibt länger als 30 Minuten. Zu seinen Computerkursen meldet sich niemand mehr an.
Hinzu kommen die täglichen Stromausfälle, die sein Geschäft für Stunden lahm legen. „Das schlimmste aber sind die Viren“, klagt er. „Ständig gehen Festplatten kaputt, weil jemand unbedacht eine E-Mail öffnet. Die Israelis schicken stündlich Massen-E-Mails herum, die ,Intifada‘ oder ,Unser Palästina‘ heißen. Natürlich werden die geöffnet, da kann ich noch so viele Schilder aufhängen.“ Muhammad kann gerade noch die Raten abbezahlen, wie lange noch, ist ungewiss.
Gaza erscheint gelähmt in diesen Tagen. Wie von einer Starre befallen. Die Verzweiflung liegt wie eine Dunstglocke über dem schmalen Landstrich. Wo die Gazzawis zu leben und zu arbeiten versuchen, jenseits der Proteste und Ausschreitungen, findet sich fast nur Resignation. Keine Hysterie. Kein Fanatismus. Keine Aggressivität. Kein Hass. Zwischendurch blitzt in den Augen der Gazzawis sogar so etwas wie Hoffnung auf. Der Glaube an eine bessere Zukunft, egal wie fern, ist noch spürbar.
„Mein größter Traum“, sinniert Walid beim dritten Tässchen Kaffee, „wäre ein Fußballspiel zwischen Gaza und Tel Aviv.“ Dann muss er lachen: „Am besten mit Hin- und Rückspiel, dann könnte ich meinen israelischen Freunden Gaza zeigen!“
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