piwik no script img

Das eigene Schwulsein immer verborgen

taz-Serie: 100 Jahre Schwulenbewegung (Teil 1): Mit der Wissenschaft als Waffe kämpfte der Sexualforscher Magnus Hirschfeld für die Gleichberechtigung von Homosexuellen  ■ Von Holger Wicht

Am Morgen eines Weihnachtsfeiertages, um die Jahrhundertwende, wurde der Charlottenburger Arzt Magnus Hirschfeld zu einem homosexuellen Studenten gerufen. Der Junge hatte sich heillos mit seinem Vater zerstritten und so das Weihnachtsfest ohne die Familie verleben müssen. Von seinem letzten Geld hatte er sich übel betrunken und schließlich einen Tobsuchtsanfall erlitten. Hirschfeld fand ihn inmitten der zertrümmerten Einrichtung seines Studentenzimmers mit aufgeschnittenen Pulsadern. „Ich wusch und verband ihm an jenem Weihnachtsvormittag eine Wunde nach der andern; er klagte nicht und sprach kein Wort, aber die flammenden Augen sprachen und die blassen Lippen sprachen und jede einzelne Wunde sprach von seinem tiefen Leide und der hohen heiligen Aufgabe derer, die an dem Befreiungswerke der Uranier arbeiten.“

Für Magnus Hirschfelds Zeitgenossen Klaus Mann war der Arzt und Sexualreformer ein „tapferer alter Forscher und Menschenfreund“. Hirschfeld selbst hat seinem Buch „Berlins Drittes Geschlecht“, in dem er auch von jenem „urnischen“ Studenten berichtet, als Motto vorangestellt: „Die grosse Überwinderin aller Vorurteile ist nicht die Humanität, sondern die Wissenschaft.“ Hirschfeld stritt nicht als „offen Schwuler“, sondern als Sexualforscher für das Naturrecht der „Konträrsexuellen“. Die eigene Homosexualität hielt er sorgsam geheim. Häufig ließ er einfließen, daß er sein detailliertes Wissen vom regen „urnischen“ Leben des Berlins der Kaiserzeit allein seinen Forschungen verdanke. Seine ängstliche Zurückhaltung ist weder verwunderlich noch verwerflich: Für ihn stand angesichts der strengen Zensur und Moral nicht nur seine Approbation, sondern auch der Nimbus des objektiven Forschers auf dem Spiel, den er für das Naturrecht in die Waagschale warf.

Das primäre Ziel des klassischen Aufklärers war die Abschaffung des Paragraphen 175 des Reichs-Straf-Gesetzbuches, der damals besagte: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Im Jahr 1897 beschloß Hirschfeld, organisiert gegen den Paragraphen vorzugehen: Am 15. Mai gründete er in seiner Privatwohnung mit dem Leipziger Verleger Max Spohr, dem Schriftsteller Franz Josef von Bülow und dem Juristen Eduard Oberg das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“ (WhK). Die Gründung wird heute, 100 Jahre später, als Initialzündung der Schwulenbewegung gefeiert.

Hirschfeld und seine Mitstreiter waren nicht die ersten, die argumentierten, was die Natur angelegt habe, dürfe nicht bestraft werden: Schon 1876 hatte Karl Heinrich Ulrichs, Amtsassessor a.D. auf dem Deutschen Juristentag in München für die Gleichberechtigung von Homosexuellen gesprochen – bis man ihn vom Podium komplimentierte. Der mutige Pionier beschäftigte sich Zeit seines Lebens mit dem „Naturräthsel der mannmännlichen Liebe“. Auf ihn geht auch die Unterscheidung zurück, nach der die Menschheit gespalten wird in Uranier oder Urninge, Uranierinnen oder Urninginnen einerseits und Dioninge (Heterosexuelle) andererseits. Ulrichs war einer der ersten, die die sexuelle Orientierung als etwas unumstößlich Angeborenes betrachteten.

Auch der Empiriker Hirschfeld glaubte, die sexuelle Orientierung läge in der Natur eines jeden Menschen begründet. Nach Hirschfeld können eigentlich typisch männliche und weibliche Eigenschaften körperlicher und seelischer Art auch Angehörigen des jeweils anderen Geschlechts naturhaft gegeben sein. Die berühmte Bezeichnung „Drittes Geschlecht“ benutzte Hirschfeld zwar, hielt sie aber für „nicht gerade sehr treffend“. Lieber sprach er von sexuellen Zwischenstufen und – vor allem im politisch-juristischen Kontext – von Urningen.

Ebenso wie der Kampf gegen den Paragraphen lag Hirschfeld die Aufklärung des Volkes am Herzen. Schon 1901 hatte er unter dem Titel „Was das Volk vom Dritten Geschlecht wissen muß!“ eine Aufklärungsschrift verfaßt, Ladenpreis: 20 Pfennige. 1904 erschien „Berlins Drittes Geschlecht“. Die „Kenntnis eines Gegenstandes, der mit den Interessen so vieler Familien aller Stände verknüpft ist“, erklärt er im Vorwort, könne nicht länger „auf den engen Bezirk der Fachkollegen oder auch nur der akademischen Kreise beschränkt bleiben“.

Als 1919 mit dem Beginn der Weimarer Republik die Meinungsfreiheit garantiert war, gründete Hirschfeld in Berlin-Tiergarten sein außeruniversitäres Institut für Sexualwissenschaft. Mit dem Ansinnen einer großangelegten „Sexualreform“ sollte es später zu internationalem Ansehen gelangen. 1924 erhielt das Institut vom Staat Preußen die Anerkennung als gemeinnützige Dr.-Magnus- Hirschfeld-Stiftung. 1933 besiegelten die Nazis das Ende des Forschungszentrums, indem sie es von Sportstudenten plündern ließen. Am 10. August brannten auf dem Opernplatz auch die Schriften des jüdischen Arztes und Sexualforschers Magnus Hirschfeld, der sich zu jenem Zeitpunkt auf einer Weltreise befand, von der er nie nach Berlin zurückkehrte. Er starb 1935 in Nizza.

Zeitsprung: 1991 wird an der Humboldt-Universität zu Berlin über das theoretische Erbe Hirschfelds verhandelt. 15 renommierte WissenschaftlerInnen aus Ost und West, darunter Martin Dannecker, legen dem Akademischen Senat ein „Gründungs-Memorandum“ über ein „Institut für Geschlechter- und Sexualforschung“ vor. Umgehend steigen alteingesessene Professoren der Humboldt-Uni auf die Barrikaden. Sie fürchten den sozialwissenschaftlichen Ansatz der SexualforscherInnen. Diese haben doch tatsächlich gefordert, die „gesellschaftliche Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und die Bedingungen struktureller Gewalt in den Mittelpunkt der Forschungen“ zu stellen. Derartige Aussagen sind für Verhaltensbiologen traditionell schwer verdaulich. Höhepunkt der Kontroverse: Der Frankfurter Sexualforscher Volkmar Sigusch zeiht den Ostberliner Hormonforscher Günter Dörner „verbrecherischer Aktivitäten“, da dieser Homosexualität auf Basis von Rattenexperimenten für eine behandelbare Störung hält. Die klassische Ursachenforschung erscheint den konstruktiven Unruhestiftern gefährlich und obsolet.

Wieder einmal kommt es statt zu einem Dialog nur zu einem Duell zwischen den Biologisten, die angeborene Triebe oder Hormone ins Visier nehmen, und den Sozialwissenschaftlern, die den Diskurs als Ordnungsmacht des Sexuellen betrachten. Die Gründung eines Institutes für Geschlechter- und Sexualforschung fällt 1991 aus.

Aber jetzt: Seit Beginn des laufenden Semesters wird an der Humboldt-Uni nach US-amerikanischem Vorbild der interdisziplinäre Studiengang Gender Studies (Geschlechterforschung) angeboten – in der Bundesrepublik ein Novum. WissenschaftlerInnen aus mehr als 20 Fächern so unterschiedlicher Art wie Kulturwissenschaften, Biologie, Theologie und Medizin arbeiten gemeinsam in Forschung und Lehre. Ein Jahrhundert nach der Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees scheint Hirschfeld in seiner Heimatstadt doch noch würdig beerbt zu werden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen