■ Israel: Signalisiert die Großdemonstration einen Wendepunkt?: Eine Augenblick der Todesstille
Die Lichter erlöschten. Der dröhnende Lautsprecher verstummte. Eine Minute lang herrschte Todesstille. Man konnte nur ahnen, daß rundherum eine Viertelmillion Menschen bewegungslos standen. Es war genau die Minute, in der vor zwei Jahren an diesem Platz die drei Schüsse erschallten, die dem Leben Rabins ein Ende setzten. Es sollte eine Gedenkfeier sein. Aber es war von Anfang an etwas ganz anderes: eine Demonstration gegen Netanjahu. War sie ein Signal, das einen Stimmungsumschwung in Israel anzeigt?
Ja und nein. Ja, weil sie das Friedenslager aus einem Zustand der Verzweiflung und Resignation geweckt hat. Nein, weil sie die Fronten nicht verändert hat. Wer die Menge analytisch betrachtete, sah, wer nicht dabei war. Unter den 250.000 – kaum hundert mit Kopfbedeckung. Der gesamte religiöse Sektor Israels fehlte. Auch orientalische Gesichter waren kaum zu sehen. Kein russischer Akzent war zu hören. Die drei Gruppen, die Netanjahu an die Macht gebracht haben – orientalische Juden, Religiöse und die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion –, waren so gut wie nicht vertreten. So rekrutierte sich die Menge aus den aschkenasischen – also aus Europa stammenden – Juden, die für Rabin und dann für Peres gestimmt haben.
Wer gehofft hatte, daß die Ermordung Rabins den Riß, der quer durch Israel verläuft, geheilt hätte, hat sich getäuscht. Das Gegenteil ist geschehen. Die eine Hälfte des Volkes, deren Repräsentant Rabin war, schaut auf die andere Hälfte verbitterter denn je. Netanjahu und seiner Partei wird vorgeworfen, systematisch Haß und Hetze geschürt und dem Mörder so den Weg gewiesen zu haben. In der letzten Woche liefen auf beiden Fernsehstationen Israels Archivfilme. Man sah Netanjahu, als er vor mehr als zwei Jahren auf einem Balkon in Jerusalem eine üble Hetzrede hielt, während die Menge unten „Tod für Rabin!“ schrie und Plakate schwenkte, in denen Rabin in Nazi-Uniform und als arabischer Terrorist zu sehen war. Der biblische Spruch, die der Prophet Elias dem König Ahab ins Gesicht schleuderte: „Hast du gemordet und auch geerbt?“ wird heute gegen Netanjahu zitiert.
Dieser und seine Bundesgenossen haben zum Gegenangriff angesetzt. Zuerst erschien ein Artikel im Organ der zur Regierungskoalition gehörenden Nationalreligiösen Partei – die politische Vertretung der extremen Siedler – in der eine wüste Verschwörungstheorie vertreten wurde. Rabin habe das Attentat als Propagandatrick inszeniert, der Attentäter sei vom Geheimdienst mit Platzpatronen ausgestattet worden. Shimon Peres aber habe seine Agenten im Geheimdienst veranlaßt, diese mit echten Patronen zu vertauschen, um selbst Ministerpräsident zu werden. So hinrverbannt und ungeheuer diese Theorie auch ist, sie fand im religiösen und rechten Lager sofort fanatische Anhänger.
Natürlich lehnt Netanjahu selbst diese Verschwörungstheorie öffentlich ab, aber seine Gefolgsleute nahmen dieses Konstrukt in gemilderter Form auf. Nach dem Mord stellte sich wirklich heraus, daß ein bekannter rechtsextremer Hetzer, Awischaai Raviv, ein Freund des Mörders, in Wirklichkeit ein Agent des Geheimdienstes – Deckname „Champagner“ – war. Der Geheimdienst bediente sich seiner, um die gefährlichsten Rechtsorganisationen zu überwachen. Nun wird behauptet, Raviv habe den Mörder selbst aufgehetzt und zur Tat veranlaßt. Somit wäre also der Geheimdienst (früher Schin-Beth, jetzt Schabak genannt) selbst am Mord an Rabin schuld.
Die jetzige Regierung betrachtet die Führung des Geheimdienstes wie auch die Armeeführung und die Medien als „links“ und zur aschekenasischen Elite gehörig. So irrsinnig dies auch klingt – das Regierungslager glaubt allen Ernstes daran. Wie bei Holocaust- Verleugnern dient dieser Geisteszustand dazu, eine Schuld zu verdrängen oder abzuwälzen. Ein ungesunder Zustand.
„Nächstes Jahr wird man behauptet, Rabin habe sich selbst umgebracht“, spottete Peres in seiner Rede. In Israel sagt man: Jeder Witz wird bei uns irgendwann Wirklichkeit. Uri Avnery
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