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Cohn-Bendit sprengt das algerische Protokoll

■ Der Europaparlamentarier macht sich mit unbequemen Sonderwünschen wenig Freunde

Algier (taz) – „Waren Sie nicht neun? Ich zähle nur acht. Wer fehlt, und wo ist er?“ So eröffnet ein belgischer Journalist die allabendliche Fragerunde an die Delegation des Europaparlaments in Algier. André Soulier, französischer Konservativer und Präsident der Gruppe, die sich seit Montag in Algerien aufhält, um die Lage der Menschen- und Bürgerrechte zu studieren, lächelt verlegen und bestätigt, was nicht nur der Fragesteller längst weiß: Der leere Stuhl gehört Daniel Cohn-Bendit. Der Bündnisgrüne Europaabgeordnete hält zum wiederholten Male im Nebenzimmer seine eigene Pressekonferenz ab.

Ohne Krawatte, den Hemdkragen aufgeknöpft, mit ungekämmtem Haar und sichtlich müde beweist Cohn-Bendit vor laufenden Kameras sein rhetorisches Geschick, das ihn einst als Studentenführer bekannt machte. Er droht, früher abzureisen, falls er nicht in Massakergebiete fahren dürfe, verlangt ein Treffen mit Vertretern der verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS) und hält der algerischen Regierung Menschenrechtsverletzungen vor. Überraschend stimmt er der von Algerien geforderten Untersuchungskommission für die angeblich in europäischen Ländern bestehenden Unterstützerstrukturen der islamistischen Terrorgruppen zu – verlangt aber im Gegenzug, daß die algerische Regierung eine unabhängige Untersuchung der Massaker im eigenen Land genehmigt.

Auf die Forderung nach Auslieferung des in Deutschland politisches Asyl genießenden Sprechers der FIS-Auslandsleitung, Rabah Kebir, antwortet der Bündnisgrüne: „Zuvor müssen die Algerier auf eines Antwort geben: Was wird mit ihm passieren, wenn er hierherkommt? Das deutsche Grundgesetzt verbietet Abschiebungen in ein Land, in dem gefoltert wird.“ Als Cohn-Bendit dann auch noch Gespräche zwischen der algerischen Regierung und dem inhaftierten FIS-Gründer Ali Benhadj verlangt, interessieren niemanden mehr die freundlichen Worte, die Delegationsleiter Soulier nebenan an seine Gastgeber richtet. „Warum hat Fidel Castro einem Treffen mit dem Papst zugestimmt, und die algerische Regierung lehnt es weiterhin ab, sich mit Benhadj zu treffen?“ lautet das meistgedruckte Zitat des Frankfurters am nächsten Tag.

Auf der Titelseite der größten algerischen Tageszeitung, Liberté, prangt die Schlagzeile „Ausrutscher“, der Untertitel verkündet: „Die Mission der europäischen Parlamentarier verliert ihre Glaubwürdigkeit“. Le Matin spricht von „Erpressung“. Algeriens Presse hat mit Cohn-Bendit ihr Enfant terrible, dem sie auf Schritt und Tritt folgt, um mit immer neuen Anekdoten und Zitaten zu beweisen, daß die neun Europäer nur eines im Sinn haben: Präsident Liamine Zéroual zu bezwingen.

Cohn-Bendits algerische Gegner tun sich schwer mit dem streitbaren 68er, der als Berichterstatter des Europaparlaments für Algerien die EU-Kommission beraten soll, wenn diese zur Unterzeichnung des Assoziierungsvertrages zwischen Brüssel und Algier schreitet. So manchen verwirrt Cohn-Bendits deutsch-französischer Lebenslauf. Warum Frankreich niemals die genaue Zahl der 1961 unter Polizeipräsident Papon ermordeten algerischen Demonstranten bekanntgegeben habe, fragt vorwurfsvoll eine Abgeordnete des Nationalrates. Nur: Cohn- Bendit ist deutscher Staatsbürger und wurde als Folge der Pariser Studentenunruhen gar als unerwünschter Ausländer aus Frankreich abgeschoben. Als Cohn-Bendit den Algeriern die blutigen Säuberungswellen nach der Unabhängigkeit vorhält, um seine Aussage zu belegen, daß Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung in Algerien nicht eine Erfindung der Islamisten sei, wird er als „Rassist“ beschimpft und bekommt die jüngere deutsche Geschichte vorgehalten. Doch Cohn- Bendits jüdische Familie gehört zu den Opfern der Naziherrschaft.

Um die aufgeheizte Stimmung etwas zu beruhigen, entschuldigt sich André Soulier auf der darauffolgenden Pressekonferenz. Als Präsident der Delegation sei er der einzige autorisierte Sprecher der neun. Meinungsverschiedenheiten müßten nach der Reise, zu Hause in Brüssel ausgetragen werden. Cohn-Bendit sitzt diesmal brav mit am Tisch, demonstrativ lässig in sich zusammengesunken, mit Sonnenbrille auf der Nase – und sicherlich über neue Alleingänge nachdenkend. Reiner Wandler

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