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"Seid wackere Guerilleros Eurer selbst!"

■ "Fußballsucht rührt an die Grundfesten des Gemeinwesens": Einleitungsreferat von Dipl. psych. Dr. Paula Schlape-Menner zu einem gerade erschienenen Buch, das den unzähligen hoffnungslos Fußballsüch

Meine Damen und Herren, hochgeschätzte Kollegen,

die meisten von uns sind mit dem, so Mitscherlich, „rollenden Runden im flachen Eckigen“ groß geworden. Wir gucken immer mehr und unreflektierter. Fernsehfußball ist mittlerweile nicht mehr wie eine Daily Soap, es ist eine. Von Bedeutung ist nicht das einzelne Spiel, sondern die immerfolgende Wiederkehr: Nach dem Abschalten ist vor dem Anschalten. Jeden Tag Fußball, eine Seifenoper ständig herumfliegender Bälle – ohne Anfang, ohne Ende. Schon gibt es die Qualifikation für Pokalwettbewerbe, deren einziger Sinn darin besteht, sich für einen anderen Pokalwettbewerb zu qualifizieren. UI- und Uefa-Cup, Fachleute unter Ihnen wissen Bescheid. Fußball wird heute nur noch inszeniert, damit es immer neue, immer sinnfreiere Spiele gibt, Anpfiffe und Abstiege und Aufstiege und Abpfiffe und Neuqualifikationen.

Wir haben uns konditionieren lassen und uns selbst konditioniert. Durch „ran“ und Konsorten. Durch die gezielte, wie viele bereits sagen: die klebrige und schmierige Verrannung der Sinne. Ja, Fußball macht süchtig, hochgradig sogar. Längst sprechen wir Fachleute davon, daß Menschen auf Fußball sind.

Wir haben es mit einer besonders gefährlichen, international vernetzten Drogenmafia zu tun. Und diese läßt nicht locker: So droht die Uefa mit neuen Europaligen, die Fifa wirft uns immer aufwendigere aufgeblähte Weltmeisterschaften hin. Das Suchtpotential der Bundesliga, von den Paten des DFB immer neu geschürt, genießt ohnehin Weltruf. Die Produktionskapazitäten der Fernsehstudios werden ständig erweitert, und so kann immer neue, synthetisch hergestellte und meist minderwertige Ware den TV-Markt überschwemmen.

Der Konsumanreiz steigt. Schulen und Arbeitsstellen bieten wenig Rückhalt. Isolation, Arbeitslosigkeit, Vereinzelung und Verlassenheit sind der Nährboden für alle Arten von Sucht und so auch für das Fußballgift. Die Spirale dreht sich unaufhörlich und in allen sozialen Schichten: vom Erstkontakt zum ersten täuschenden Genuß, dann der schnelle Schritt – quasi ein Direktpaß – vom Konsum zur Gewöhnung zum Mißbrauch und letztlich volley in die Abhängigkeit.

Nehmen wir eine ganz normale Fußballübertragung irgendeines banalen Europapokal-Spiels. Vielleicht sitzen fünf Millionen Bundesbürger vor den Geräten, vielleicht acht. Das ist eine abstrakte Zahl. Aber in wie vielen Abertausenden Einzelschicksalen mag der Balltritt Tröster sein, wo Sedativum, Tranquilizer, wo Aufputschmittel gegen die Langeweile, wo Beruhigungsmedikament gegen den Streß, gar Schlafdroge oder scheinbares Ablenkungsmittel von Problemen und Lasten?

Und das besonders Tückische: Gerade bei der Fußballdroge finden sich sehr schnell Gruppen von Gleichgesinnten zusammen. Wenn man aber die Suchtmittel erst einmal innerhalb solcher Cliquen zu sich nimmt, und dies passiert meist mit einem virulent hohen Zeitaufwand, ist es für Therapeuten um so schwerer, an die Kranken heranzukommen.

Die Rauscherlebnisse, die subjektiven Glückszustände („Tooor...“) geben kurzfristige und vordergründige Befriedigung. Es folgen Flucht- und Verdrängungsneigung, der Wunsch nach immer mehr, bald Wahnvorstellungen („Hertha wird Meister“), körperliche Ausfälle durch Beidrogen wie Alkohol, Aggression und Gewalt, letzte Rechtfertigungsversuche durch Verdrängung („Andere gucken noch mehr“), schließlich Frustration und Sinnleere an den heute sehr seltenen Tagen ohne Fußballkonsumangebote. Und Enttäuschung und Ärger an den häufigen Tagen, wenn ein Spiel mal wieder nicht so gut oder erfolgreich („Scheiß Hertha!“) war, wie man es sich in seiner wachsenden pathologischen Verblendung ausgemalt hatte. Geguckt wird trotzdem, immer mehr, immer besinnungsloser.

In meiner therapeutischen Praxis habe ich es immer häufiger mit Fußball-Usern zu tun. Die Anamnese zeigt oft sehr ähnliche Verläufe: Entweder sind die Klienten schon frühkindlich geprägt worden und gucken halt schon immer. Hier gibt es vereinzelt ganz erstaunliche Verkehrt-Ödipalisierungen: Väter, die ihre Kinder in besonders jungen Jahren (U6) mit ins Stadion nahmen, haben meist besonders starke und schwer behandelbare Vereinsfixierungen ausgelöst. Auch die Suchtforschung beginnt sich für das Thema zu interessieren: In Italien (Juve-Uni Turin) gibt es schon Studien über pränatale Stadionbesuche und ihre traumatischen Folgen ab Geburt. Ein zweiter Fall sind Patienten, die, um es spätfreudianisch zu formulieren, in postjuveniler Phase angefixt worden sind durch die vielen TV- Übertragungen insbesondere in den Privatkanülen, entschuldigung: in den Privatkanälen.

(Heiterkeit im Plenum)

Wir dürfen die Augen nicht mehr verschließen. Denn längst ist die Fußballsucht kein individualistisches Problem mehr – sie rührt vielmehr an die Grundfesten unseres Gemeinwesens. Kaum hatte sich die Nationalmannschaft, die sogenannten Berti-Buben, im vergangenen Herbst für die WM in Frankreich qualifiziert, schwappte eine Welle bislang unbekannten Ausmaßes in die Familienberatungsstellen: von prophylaktisch hilfesuchenden Ehepartnern, meist Partnerinnen, aber erstmals in geringem Maße auch von Suchtkranken selbst. Dies berichten übereinstimmend weltliche wie kirchliche Träger, auf dem Land wie in den Zentren. Ehen sind zerrüttet, Familien brechen auseinander, sogenannte Fans vereinsamen zunehmend vor den TV-Geräten – der Fußball, meine Damen und Herren, ist in der Tat zu einem gräßlich gemeingefährlichen Gemütsgeschwür unserer Gesellschaft geworden.

(Starker Applaus)

Nach Jahren der Sucht folgt oft die Phase wachsender Leiden, innerfamilialer Streitigkeiten, in unserem Jargon sprechen wir, wie Sie wissen, von voll introjizierter Über-Ich-An- und -Überforderung. Die Folge: Die Süchtigen kapseln sich ab, der Leidensdruck steigt weiter. Der emotionale Kontakt ist stark reduziert, erst zur Familie, dann zur restlichen Umwelt. „Mit dir ist ja nichts anzufangen“, hat einmal die Partnerin zu einem meiner Patienten gesagt, „du denkst ja selbst beim Ficken ans Kicken.“ So vulgär das ist, werte Kollegen, so wahr ist es und so erschütternd.

In den meisten Fällen trifft die Fußballsucht bekanntlich Männer, die leider auch besonders therapiescheu sind. Durch Seminarangebote und Abstinenzgruppen (Arbeitskreis Anonyme Fußballgucker) können auch hier erste Kontakte hergestellt werden. Manche werden von Scham- und Schuldgefühlen in die Krisenintervention getrieben.

Fußballsucht ist eine ernste, eine sehr schwere Krankheit. Wir stehen in Beratung und Behandlung erst ganz am Anfang. Der therapiewillige Fußballsüchtige wird schwere innere Kämpfe zu bestehen haben bis zur Befreiung. Aber auch diesem wackeren Guerillero seiner selbst muß klar sein: Substitution, etwa durch Eishockey oder Basketball als ersetzende Methadone, verlagert das Problem nur. Für eine begrenzte und kontrollierte Abgabe der Droge gibt es keine Modelle, erst recht keine Erfahrungswerte, auch nicht in anderen Ländern. Nein, es geht nur mit einem sukzessiven, aber letztlich vollständigen Entzug, mit völliger Abstinenz. Der Kontakt zum Rauschmittel muß vollkommen aufgegeben werden. Ich wünsche dazu Kraft und Ausdauer.

Vielen Dank.

(Sehr starker Applaus)

Dieser Beitrag ist entnommen aus dem Buch „Fußballfrei in 11 Spieltagen“ von Bernd Müllender, erschienen im Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1998, 256 Seiten, 16,90DM.

Heute abend um 20 Uhr liest der Autor in der Stadtbibliothek Reutlingen und zeigt von ihm höchstpersönlich zusammengeschnittene Videofilme.

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