: Renaissance einer aufmüpfigen Nonne
Sie gilt als große Mystikerin des Abendlandes: Hildegard von Bingen. Die adlige Ordensfrau hatte bereits in früher Jugend Visionen, aus denen sie ihre Vorstellung vom Kosmos ableitete. Ihre Grunderkenntnis: Alles hängt mit allem zusammen. Obwohl über 800 Jahre tot, übt sie auch heute noch große Faszination aus. Frauenbewegte beanspruchen sie als eine der ersten emanzipierten Frauen, Esoteriker als Seherin und geniale Heilkundige. Fest steht nur: Hildegard von Bingen war eine außergewöhnliche Frau, ußergewöhnlich begabt und außergewöhnlich durchsetzungsfähig. Fürsten las sie die Leviten, von den Kirchenoberen verlangte sie Reformen, Mönchen rang sie gar ein eigenes Frauenkloster ab. Wie groß das Interesse an der Ordensfrau ist, ist spätestens in Bingen zu spüren: Die Kleinstadt hat einen Tourismusmagneten gefunden. Es gibt Dinkelkissen, Hildegardplätzchen und jede Menge Stadtführungen. Derweil versuchen die Nonnen im heutigen Hildegardkloster das schiefe Bild ihrer berühmten Vorgängerin zurechzurücken. Über die merkwürdige Renaissance einer Klosterfrau ■ Aus Bingen Barbara Debus
Wer im Binger Hotel „Starkenburger Hof“ ans Frühstücksbüffet tritt, kann den Tag kulinarisch mit der heiligen Hildegard beginnen – in Form von „St.-Hildegardis-Müsli mit Dinkelflocken“. Die patente Wirtin hat eine Fortbildung des Verkehrsamtes über die heilige Tochter der Stadt besucht. Und stellt sich mit freundlichem Augenzwinkern ein auf die Wünsche der Gästescharen, die neuerdings das Städtchen heimsuchen. Den Bingern soll's recht sein. Die Wirtin des Starkenburger jedenfalls sagt nicht nur den heimischen Ordensleuten amüsiert nach: „Die sind sehr geschäftstüchtig.“
Beim Schaufensterbummel durch die Fußgängerzone des Rhein- und Weinstädtchens läßt sich fast überall ein segensreiches Hildegardprodukt entdecken. Die Adler-Apotheke offeriert „Hildegard- Kissen mit Dinkelspreu-Füllung. Traditionell angewendet bei Migräne, Schnarchen, starkem Schwitzen in der Nacht...“ Die Konkurrenz bietet fürs dickere Portemonnaie Antirheuma-Bettauflagen, gefüllt mit „Dinkelspelz aus organisch-biologischem Anbau“ – das Ganze für 450 Mark. Das Café Köppel lädt zur Verschnaufpause mit „Hildegards Kräuterlikör“ und „Gewürztalern mit Dinkel“, lecker auch die Hildegard gewidmeten Pralinés – selbstverständlich mit Dinkel. Der Juwelier offeriert als Mitbringsel „Hildegard-Medaillen“ aus 585er Gold. Zu erwerben gibt es auch Hildegardkräuterkosmetika, hildegardheilkraftversprechende Edelsteine und Autoaufkleber zum Jubiläumsjahr.
Bingen feiert ausgiebig – ein ganzes Jahr lang – den neunhundertsten Geburtstag der Äbtissin Hildegard von Bingen. Ein touristischer Erfolg. Kirchengruppen verlegen ihren Jahresausflug nach Bingen, Einzelreisende, vor allem Frauen, kommen aus den USA, um „auf den Spuren der heiligen Hildegard“ zu wandeln.
„Auf den Spuren der Hildegard“ – so heißt auch das beliebteste Angebot der Binger Touristiker: Oftmals sind zwei „Hildegardführer“ gleichzeitig in der Innenstadt im Einsatz. Bevor der Hildegardjubiläumsboom ausbrach, kamen im Rahmen des herkömmlichen Rhein- und Weintourismus innerhalb eines Jahres nur ganze dreißig reguläre Stadtführungen zustande. 1998 zum Höhepunkt des Jubiläumsjahres sind 270 Termine allein für Hildegardführungen gebucht.
Hildegardtouren beginnen gewöhnlich beim Verkehrsamt am Rheinkai, von da aus geht's zur Volksbank, von deren Fassade eine Hildegardstatue auf die FußgängerInnen hinunterblickt. Nächste Station – der Brunnen auf dem Marktplatz, hier ist der Kopf der Äbtissin in Bronze verewigt. Weiter zu einem Hildegardwandbild aus den Siebzigern an einem Privathaus.
Spätestens hier drängt sich die Frage auf: Gibt es eigentlich irgend etwas „Echtes“ in Bingen von der berühmten Heiligen? Hildegardführer Guido Gros, belesener Lateinstudent, schenkt den TouristInnen reinen Wein ein: Von Hildegards imposanter Klosteranlage im heutigen Stadtteil Bingerbrück habe zwar bis ins letzte Jahrhundert hinein eine malerische Ruine existiert, die sei jedoch – profan – dem Eisenbahnbau geopfert worden.
Heute haben Bingens TouristikerInnen deshalb ein Problem. Denn sie haben nur noch die „fünf Arkaden“. Das sind strenggenommen keine vollständig erhaltenen Rundbögen vom Mittelschiff der alten Klosterkirche. Nur noch die oberen Abschnitte der meterdicken Gemäuer haben die Jahrhunderte überstanden. Und auch diese sind – so muß der Hildegardführer gegen Ende des Rundgangs bekennen – sonntags nicht zu besichtigen: Die Bögen sind „baulich integriert“ in das Verwaltungsgebäude der Firma „Nett und Würth, Büromöbel“. Doch auch an Arbeitstagen strahlen sie nicht den Charme mittelalterlicher Klostergewölbe aus: Die Arkaden sind beige verputzt und dienen zweckmäßig als Raumteiler. Das veranlaßte die Süddeutsche zu der spitzen Bemerkung: „Sie gehören zum Interieur der Firma wie Computer und Fax.“
Es ist nicht zu übersehen: Weniger Hildegards steinerne als ihre geistige Hinterlassenschaft treibt die Menschen nach Bingen. Drei umfangreiche theologische Werke der Äbtissin sind erhalten. Zweifelsfrei fest steht zudem die Autorinnenschaft Hildegards an knapp dreihundert erhaltenen Briefen, darunter solche an die einflußreichsten Männer ihrer Zeit wie Kaiser Barbarossa, Papst Eugen und den mächtigen Kleriker Bernhard von Clairvaux. Ebenfalls unzweifelhaft ist Hildegard Urheberin zahlreicher Kompositionen (77 Lieder und ein Singspiel).
Allerdings vertiefen sich nur die wenigsten BingentouristInnen je in die hinterlassenen theologischen Schriften der Äbtissin. Wie es der Zeitgeist will, ist Theologie heutzutage nicht sehr angesagt. Oder wie sich die Sprecherin der Abtei St. Hildegard, Schwester Philippa, ausdrückt: „Die Theologie hat es heute eh nicht leicht. Und Hildegards theologische Schriften mit ihrer sehr bildreichen Sprache sind nicht so leicht zu verstehen.“
Hildegards Werke sind geprägt durch die mittelalterliche Vorstellung der Einheit von Mensch, Kosmos, Gott und Natur. Und dieses Konzept der „Ganzheitlichkeit“, das in Zitathäppchen in der Literatur über sie weitervermittelt wird, mag einen Teil ihrer Popularität und Modernität erklären. Für Hildegard von Bingen klingen Belebtes und Unbelebtes zusammen, alles ist mit allem in erotischer Zuneigung verbunden.
Sie spricht von der „liebenden Umarmung aller Kreatur. Jedes Geschöpf ist mit einem anderen verbunden, und jedes Wesen wird durch ein anderes gehalten. Die Kräuter bieten einander den Duft ihrer Blüten an, ein Stein erstrahlt seinen Glanz auf die anderen, und alles, was lebt, hat einen Urtrieb nach liebender Umarmung.“ In den Schriften der Binger Mystikerin ist das Leben auf Glück hin entworfen, nicht auf Unglück. Sie singt Hymnen auf den göttlichen Eros: „Wir sind die Glieder, die du in Liebe geschaffen hast. So wie du in jener Liebe glühst, als du deinen Sohn vor aller Schöpfung in der Urmorgenröte gezeugt hast.“
Die Binger Äbtissin lebte im Zeitalter der Kreuzzüge und des erbitterten Kampfes zwischen Papst und Kaisertum um die Führung in Europa. Politisch trat sie dafür ein, daß sich die Kirche von staatlicher Macht fernhielt. In ihren Briefen an die mächtigen Männer ihrer Zeit offenbart sie sich als unerschrockene Zeitgenossin. Eine „sehr mutige Frau, die den Kirchenoberen die Leviten las. Dabei bewegte sie sich auf einem äußerst schmalen Grat zwischen Akzeptanz und Scheiterhaufen“, sagt der Binger Verkehrsamtsleiter. Sie schrieb etwa an Papst Anastasius IV. im Jahr 1153: „Du o Rom, liegst in den letzten Zügen. Du wirst so erschüttert werden, daß die Kraft deiner Füße, auf denen du bis jetzt gestanden, dahinschwindet.“
Hildegard von Bingen war eine hochgebildete Frau aus adeliger Familie. Im Alter von acht Jahren hatten ihre Eltern sie, das zehnte Kind, zur religiösen Erziehung aus dem Haus gegeben. Gerade einmal vierzehn Jahre alt, gründete Hildegard zusammen mit der nur sechs Jahre älteren Jutta von Sponheim eine Klause – die Keimzelle eines Frauenklosters, das dem Benediktinermännerkloster Disibodenberg angeschlossen war. „Ein sehr junges geistliches Unternehmen, das die Adelstöchter begannen“, sagt ein Hildegardforscher.
Hildegard war zwar umfassend gebildet, doch im Gegensatz zu den männlichen Klosterzöglingen wurde sie nicht formell in die Naturwissenschaften, in Grammatik und Stilistik eingewiesen. So benötigte sie später die Hilfe von Mönchen beim schriftlichen Abfassen ihrer lateinischen Werke.
Nach dem Tod Jutta von Sponheims wurde Hildegard von Bingen Vorsteherin der kleinen Frauengemeinschaft. Sie geriet zunehmend in Konflikt mit den Mönchen, da diese die nicht unerheblichen Mitgiften der adligen Nonnen für sich reklamierten. Schließlich entschloß sich Hildegard, in Bingen ein eigenes Frauenkloster zu gründen. In hohem Alter richtete Hildegard auf der anderen Rheinseite ein weiteres Kloster ein, diesmal nicht für die Frauen aus adligen Familien, sondern für die aus einfachen Verhältnissen. Hildegard stieß auf Widerstand bei den Mönchen: „Sie sagten, ich sei von einem eitlen Hirngespinst getäuscht. Wie kann das sein, daß dieser törichten Frau so viele Geheimnisse offenbart werden, obwohl es viele brave und weise Männer gibt.“
Die Ordensfrau berichtet immer wieder, es seien Visionen – „Schauen“ –, die ihr die theologischen Werke und Lieder möglich gemacht hätten: „In meinem dritten Lebensjahr sah ich so ein großes Licht, daß meine Seele erbebte, doch wegen meiner Kindheit konnte ich mich darüber nicht äußern. Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr sah ich vieles, und manches erzählte ich einfach, so daß die, die es hörten, sich eher wunderten, woher es käme und von wem es sei. Da wunderte ich mich auch selbst und verbarg die Schau, so gut ich konnte.“
Mit zweiundvierzig Jahren begriff die Äbtissin ihre Visionen als von Gott eingeben: „In der gleichen Schau verstand ich plötzlich ohne menschliche Belehrung die Evangelien, die Schriften der Propheten und anderer Heiliger und bestimmter Philosophen. Einige davon legte ich aus, obgleich ich kaum irgendwelche literarische Kenntnisse hatte, denn die Frau, die mich unterrichtet hatte, war nicht gebildet. Auch komponierte und sang ich Lieder, zum Lobpreis Gottes und der Heiligen, obwohl ich weder Noten noch Singen gelernt hatte.“
Hildegard macht sich in ihren Selbstzeugnissen immer wieder klein, stellt sich als ungebildet dar und von höchst zerbrechlicher Gesundheit. HildegardforscherInnen gehen inzwischen davon aus, daß dies ein Stilmittel war, um so zu betonen, daß sie von Gott höchstpersönlich inspiriert worden sein muß, eine echte „Posaune Gottes“.
Es gelang Hildegard in den darauffolgenden Jahren, Anerkennung vom Klerus zu bekommen. Schließlich wurde ihr Werk Papst Eugen vorgelesen. Der erste schriftlich belegte Fall, daß ein Papst ein theologisches Werk dieser Art absegnete. Nach dieser Ermutigung beendete Hildegard ihr erstes theologisches Buch Scivias, zu deutsch „Wisse die Wege“.
Von der Bevölkerung der Rheinregion wurde die Äbtissin als Heilkundige geschätzt. „Von allen Seiten strömten Scharen von Menschen, Männer und Frauen, zu Hildegard, denen sie mit Gottes Gnade reiche, ihrem Leben angepaßte Ermahnungen gab. Sehr viele erhielten von ihr Ratschläge für ihre körperlichen Gebrechen, an denen sie litten, nicht wenige wurden auch durch ihren Segen von ihrem Leiden befreit“, schrieben Mönche.
Schon bald nach ihrem Tod beginnt die Bevölkerung, sie als Heilige zu verehren und zu ihrem Grab zu pilgern. Das offizielle Heiligsprechungsverfahren in Rom versandet jedoch. Nicht überraschend, statistisch betrachtet. Denn kaum ein Ordensmann kam nach seinem Tod in den Genuß der Heiligsprechung, schon gar keine Ordensfrau. „Während dieser Zeit von mehr als zweieinhalb Jahrhunderten wurde nicht eine einzige Benediktinerin zur Ehre der Altäre erhoben. Ja, Hildegard war sogar die einzige, deren Fall von den Päpsten überhaupt zur Kenntnis genommen wurde“, sagt die amerikanische Hildegardforscherin Barbara Newman.
Die Verehrung Hildegards hielt sich in der Region über die Jahrhunderte. 1857 fand im Rahmen der katholischen Erneuerungsbewegung eine erste Reliquienprozession statt, eine Tradition, die bis heute fortlebt und die Tausende Jahr für Jahr am Todestag Hildegards, am 17. September, nach Eibingen führt, in die Kapelle, in der ihre Reliquien aufbewahrt werden. An ihrem 750. Todestag, 1929, waren es über 20.000 Menschen. Das war auch eine Demonstration von Katholiken gegen den aufkommenden Nationalsozialismus.
Populär in der Postmoderne wurde Hildegard jedoch durch zwei nichtreligiöse Schriften, bei denen sich die QuellenforscherInnnen immer noch streiten, ob und wieviel davon überhaupt von ihr selbst stammt: „Ihre“ Natur- und „ihre“ Heilkunde. Im Mittelalter gehörte zu jedem Kloster ein Hospiz, eine Apotheke und ein Kräutergarten, vermutlich enthalten die beiden natur- und heilkundlichen Werke vor allem tradiertes Wissen aus Hildegards Zeit und weniger persönliche Erkenntnisse der Äbtissin. In beiden Büchern sind zahlreiche Rezepturen gegen Krankheiten überliefert. Vertreten wird die Lebensmaxime der „Maßhaltung“, der Mensch solle „bewußt“ leben, sich seiner Ernährung, seines Körpers bewußt sein.
Kein Wunder also, daß diese Werke heutzutage ankommen. Sind doch naturmedizinische Behandlung, naturgemäße Ernährung und eine streßfreie Lebensweise gerade erst wiederentdeckt worden. Paradox ist nur, daß gerade die Hildegard nicht zweifelsfrei zuzuschreibende Kräuterheilkunde den größten Teil ihres heutigen Kultpotentials ausmacht.
Die HildegardverehrerInnen bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Esoterikmumpitz und echter Annäherung an mittelalterliches Denken und Fühlen. „Schlagworte wie ganzheitliches Leben, sanftes Heilen durch Hildegardmedizin, Sacro-Pop, dazu der eigentümliche Markt um Edelsteine und Dinkelmehl verdunkeln das Bild der großen Benediktinerin“, sagt die Religionswissenschaftlerin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz. Ähnlich sieht das auch der Binger Theologe Josef Krasenbrink: „Die esoterischen Bewegungen sind fasziniert von der Vernetzung alles Lebendigen im Werk Hildegards und mißbrauchen sie. Hildegard wird manipuliert zur Handreichung für die Selbsterlösung.“
Ausgelöst wurde die Hildegardrenaissance 1979 durch die noch vergleichsweise bescheidenen Feierlichkeiten zum 800. Todestag der Äbtissin. Damals wurden die zahlreichen Facetten und Begabungen Hildegards erstmals deutlich, und eine Publikationsflut setzte ein. Die Suche nach alternativer Heilkunde, gesunder Ernährungs- und Lebensweise – und die Suche von Frauen nach starken historischen Vorbildern mögen erklären, warum eine Nonne des Mittelalters diese unvergleichliche Karriere in der Postmoderne antreten konnte.
Als rechtmäßiger Nachfahre der beiden Hildegardkloster versteht sich das Benediktinerinnenkloster Eibingen. Es liegt Bingen schräg gegenüber auf der anderen, der hessischen Rheinseite. Das Hildegardjahr wurde von hier aus mitgeplant und entlädt sich in der Hauptsaison in vier bis sechs Reisebusanlandungen täglich.
Vierzehn Schwestern sind zu Hildegardvorträgen abgestellt. Schwester Scholastica obliegt die Koordination. „Der Fehlinterpretation, die sich in den letzten zwanzig Jahren um Hildegard entwickelt hat, entgegenzutreten“ – das sei ihr Ziel, sagt die Nonne. So würden Feministinnen vor allem in Kanada, Australien, Neuseeland und den USA Hildegard für sich reklamieren, da diese angeblich einzigartig gewesen sei mit ihrer hohen Bildung und ihrem Mut zur Klostergründung.
Doch Schwester Scholastica läßt Hildegard nicht als feministisches Vorbild gelten: „Es gab andere Äbtissinnen vor ihr. Außerdem waren damals üblicherweise die Frauen des Adels gebildet. Kaiser Karl konnte zum Beispiel selbst nicht schreiben, dafür unterzeichneten seine Frauen die Urkunden.“ Damit nicht genug, Schwester Scholastica befreit Hildegard auch gleich noch aus den Fängen der Esoteriker: „In Hildegards Denken hängt alles mit allem zusammen, Natur, Mensch, Kosmos. Doch ohne Gott, der über allem stand, ist Hildegards ganzheitliches mittelalterliches Weltbild nicht denkbar.“
Den Esoterikern werfen die Ordensfrauen deshalb vor, das Weltbild der heiligen Hildegard „zu köpfen“. Die Benediktinerinnen wehren sich auch dagegen, Hildegards theologische Visionen zu begreifen als „Diktat aus dem himmlischen Fernsehapparat“. Für Schwester Philippa waren sie „mühsame Arbeit“. Sie verwahrt sich ebenfalls gegen die Lesart, die Visionen seien Ergebnis schwerer Migräneanfälle: „Das ist hanebüchener Unsinn. Wie alle Benediktiner führte Hildegard ein kontemplatives Leben. Sie betete viel, feierte aktiv die Liturgie, meditierte die Heilige Schrift, und daraus entsteht – wenn man das Glück und die Gnade antrifft – die Chance, salopp gesagt, diesen Durchblick zu finden.“
Den Verdacht, Hildegard könnte eine lesbische Beziehung zu ihrer Lieblingsnonne Richardis von Stade unterhalten haben, halten die Benediktinerinnen für bösartige Unterstellung. „Sie war von solcher Art, daß meine Seele überquoll vor Liebe zu ihr, voller Schönheit, Zier und Wohlklang“, schwärmte Hildegard. Die Zeilen einer Homosexuellen? Dies sei eben typischer Ausdruck ihrer Zeit, sagen die Nonnen.
Schon einmal dabei, entkräften die Benediktinerinnen auch noch gleich das vorherrschende Bild von Hildegard als der Dinkelheiligen – nicht ohne feinsinniges Lächeln: Sie habe doch gerade mal fünf freundliche Zeilen über das Korn verfaßt. Kein Wunder indes – Dinkel sei nun einmal das Getreide ihrer Zeit gewesen.
So ins Bild gesetzt über den Kern des Wesens der historischen Hildegard, verlassen die Gäste den kargen Vortragssaal des Klosters – und tummeln sich nebenan im Klosterladen. Hier gibt es Deutschlands ausgefeiltestes Sortiment an – eßbaren Dinkelprodukten. „Dinkeleiernudeln, Dinkelknuspermüsli, Dinkelbutterzwieback, Dinkelvollkornvanillekipferl...“
Allerdings nicht ohne den schriftlichen, warnenden Hinweis: „Die Bewertung des Dinkels als ausgesprochenes Heilmittel ist zweifelhaft.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen