: In Walsers Gewissensgärtchen
■ Vergangenheitspolitik: Im Zwist mit Ignatz Bubis beansprucht Martin Walser eine Privatisierung öffentlicher Fragen
Mein Gewissen ist mein Gewissen ist mein Gewissen. Was sich darin abspielt, lasse ich mir von niemandem vorschreiben. Ich bin sein alleiniger Haushälter. Wer das nicht respektiert, wer mir eine bestimmte Gewissenssicht aufzwingen will, vor allem eine vorgestanzte, routinierte Sicht auf die Verbrechen des NS-Regimes, der betreibt Gewissensdomestizierung. Und damit basta!
So, leicht gerafft, klingt Martin Walsers Grundmelodie in der Diskussion mit Ignatz Bubis, abgedruckt in der FAZ vom 14. Dezember. Walser nimmt für sich einen Sprachgebrauch der „Selbsterkundung“ in Anspruch. Aber bei dieser Erkundung sieht er sich umstellt von einem Generalverdacht, immerzu erneuert von den Gefängniswärtern der Öffentlichkeit, die ihn einsperren wollen in den deutschen Schuldknast. Dessen Mauern gilt es niederzureißen, um zu einer authentischen „Vergewisserung“ zu gelangen.
Für Walser ist „Gewissen“ nicht verfügbar, nicht kommunizierbar. Er trägt es vor sich her wie eine Hostie. Gleichzeitig aber macht er es zum Gegenstand einer öffentlichen Erörterung. Er spricht kein Gedicht, keinen literarischen Text. Sondern er nutzt die öffentliche Rede, um sich gegen den angeblichen Mechanismus ritualisierter Schuldzuweisung an die Adresse der Deutschen zur Wehr zu setzen. Indem er so verfährt, erkennt er eigentlich an, daß sein innerer Gerichtshof nach Normen entscheidet, die ihm „ins Herz geschrieben wurden“ – nicht von Gott, sondern von weitaus irdischeren Instanzen.
Was meint eigentlich die Rede von jemandem, der seinem Gewissen folgt? Er entscheidet sich – und muß mit den Folgen seiner Entscheidung leben. So wie die tschechischen Patrioten, die den SS- Chef und Reichsprotektor Heydrich erschossen und damit die – voraussehbaren – Massenrepressalien gegen tschechische Bürger in Kauf zu nehmen sich gezwungen sahen. Diese Folge haben sie „auf ihr Gewissen genommen“. Aber sie taten es nach einer gemeinsamen Klärung: daß es das Wichtigste sei, ein Fanal des Widerstandes gegen die nazistische Okkupation ihres Landes zu setzen.
Wer vom „Gewissen“ redet, tut dies in der Situation einer Entscheidung. Meist einer qualvollen zwischen sich ausschließenden ethischen Prinzipien. Walsers Gebrauch des Gewissens ist chemisch gereinigt von einer solchen Konfliktsituation. Er beansprucht einfach die Privatisierung von Auseinandersetzungen, deren Kern öffentlicher Natur ist. Genauer: Er vermischt das „Öffentliche“ unzulässig mit dem, was er für sich als „Privater“ ersehnt, nämlich mit sich selbst ins reine zu kommen. Aber für Seelenfrieden ist Bubis nicht zuständig. Walser erklärt, er habe die Seite der Beschuldigten nie verlassen. Klingt eindrucksvoll, ist aber nichts als eine wohlfeile Phrase. Im Eigenheim seiner Psyche ist er der Gärtner seines unglücklichen Bewußtseins. Und verteidigt seinen Garten gegen die Zumutungen öffentlicher Diskussion.
Was Walser als Gewissen einfordert, ist eigentlich der Versuch eines authentischen moralischen Urteils. Aber ein solches Urteil bildet sich nicht, indem jeder in sich hineinhorcht, sondern es ist Folge der geschärften Wahrnehmung, des genauen Blicks, der sich im Prozeß der Aufklärung und Selbstaufklärung bildet – eben mitten in der Öffentlichkeit. Martin Walser fühlt sich umstellt von Tugendwächtern, die die Moralkeule schwingen. Er spielt für sich das alte Drama vom „innengeleiteten“ Helden nach, der sich in einer Welt des „außengeleiteten“ Konformismus behaupten muß.
Aber dieses Drama hat mit dem, was sich in der deutschen Wirklichkeit abspielt, nur geringe Berührungspunkte. Es stimmt, seinerzeit wurde Walsers Plädoyer für die Wiedervereinigung entgegengehalten, die deutsche Nation habe wegen des Mordes an den europäischen Juden für immer das Recht auf Einheit verwirkt. Das war tatsächlich eine Instrumentalisierung der Shoah. Aber angesichts des Fremdenhasses, angesichts von Rostock und Mölln an den braunen Mob vor und nach Hitlers Machtergreifung zu erinnern, hat mit Instrumentalisierung des Judenmords „für gegenwärtige Zwecke“ nichts zu tun.
Walser hat die Nerven, zu konstatieren, Bubis' schiere Anwesenheit in Rostock-Lichtenhagen würde das Geschehen „zurückkoppeln an 1933“. Für Walser sind die Brandstifter und die Beifall spendenden Gaffer Asoziale, von Hoffnungslosigkeit und familiärer Bindungslosigkeit Gezeichnete, wie auch die DVU-Wähler in Sachsen-Anhalt in erster Linie als „Protestwähler“ zu verstehen sind. „Es bedarf keiner Rückbindung an die Jahre von 1933 bis 1945.“ „Täter, Opfer, Zuschauer“ hat Raul Hilberg sein letztes Werk über NS- Deutschland genannt. Wegsehen angesichts der Bilder von Rostock- Lichtenhagen? Wegsehen angesichts des rechtsradikalen Terrors (nicht nur) in den neuen Bundesländern? Ignorieren, daß in Mecklenburg seitens der NPD manifest nazistische Parolen verbreitet werden? Behaupten, das seien nur Oberflächenphänomene, von den Medien hochgeputscht, um das Süppchen der moralischen Indoktrination zu kochen und Walser den Weg zu verstellen für seine authentische Gewissenserforschung?
In seiner Frankfurter Dankesrede fragte Walser rhetorisch: „In welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein normales Volk, eine gewöhnliche Gesellschaft.“ Ganz einfach: in den Verdacht der Blindheit, hervorgerufen durch Wegschauen. Denn von welcher Normalität die Rede ist, erfährt beispielsweise jeden Tag die ehemalige Ausländerbeauftragte Annetta Kahane, wenn es ihr angesichts der rechten Gewalttaten entgegenschallt: „Was regst du dich auf, das ist doch normal!“
Seltsam nur, daß viele sensible Menschen aus der jungen Generation, an deren freier Gewissensbildung Walser so viel gelegen ist, sich so gar nicht wiederfinden in seinem Szenario der übermächtigen Kontrolle durch die mediale Gewissenspolizei. Sie möchten umfassend informiert werden, sie möchten genau wissen, was zwischen 1933 und 1945 geschah. Sie möchten den Mechanismus verstehen lernen, der „aus ganz normalen Männern“ Mordmaschinen machte. Und zwar, um sich eine quälende Gewissensfrage vorzulegen: Hätte ich in einer vergleichbaren Situation anders gehandelt? Und um zu schlußfolgern: Was können wir praktisch tun, damit ein solcher Schrecken sich nicht wiederholt? Für diese Fragen brauchen die Jungen keine neue Sprache, erst recht nicht Martin Walsers privaten Gewissensgarten. Christian Semler
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