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Bebügeln und bekochen

Die etwas andere Wohngemeinschaft: Elf Frauen zwischen 69 und 86 Jahren haben eine Alternative zum Altenheim gefunden. Männer sind nicht dabei – die wollen nur umsorgt werden Von Ulrike Schnellbach

Es ist einer dieser schönen Herbstnachmittage, gerade noch einmal warm genug, um draußen zu sitzen. Im Garten unter einem Zeltdach ein großer Tisch, elf Plastikstühle mit dicken Polstern. Nach und nach kommen die Frauen aus dem Haus. Frau Sommerlade fällt es etwas schwer, mit ihren Krücken durch den großen Garten zu gehen.

Auch Frau Eysel geht am Stock, und nachdem sie sich gesetzt hat, muss sie erst einmal ihr Hörgerät einschalten. Frau Plotzki ergreift zuerst das Wort. „Haben Sie gehört, dass Frau G. gestorben ist?“ Manche haben es in der Zeitung gelesen. Andere sind erschrocken, wann denn, wollen sie wissen, und wo, im Krankenhaus? „Erst vor ein paar Tagen habe ich doch noch mit ihr gesprochen“, sagt Frau Sommerlade kopfschüttelnd. Dann die praktischen Fragen: Wann ist die Beerdigung, wer besorgt Blumen?

Hausversammlung in der Altenwohngemeinschaft in der Göttinger Oststadt: Elf Frauen im Alter zwischen 69 und 86 Jahren wohnen in der großen Jugendstilvilla. Jeden Dienstagnachmittag, drei Uhr, setzen sie sich zur Besprechung zusammen.

Frau Gaber rückt ihre Brille zurecht und liest einen Brief vor. Er ist von der Frau, „die hier einziehen möchte“, erklärt sie – und stockt. „Äh, natürlich nicht demnächst!“ Die anderen lachen. Es klingt betreten. Schließlich kann nur jemand einziehen, wenn eine von ihnen stirbt.

Als nächstes ist das bevorstehende Straßenfest zu besprechen. Wer kocht Kaffee, wer backt Kuchen? „Denken Sie daran, laut zu sprechen“, mahnt Frau Lauenroth, „sonst versteht Frau Eysel gar nichts.“ Die Dame mit dem Hörgerät lächelt dankbar. „Wenn alles durcheinander geht, verstehe ich nichts. Verstehen Sie dann was?“ Frau Lauenroth, mit 69 Jahren die Jüngste am Tisch, schüttelt taktvoll den Kopf. „Nein, dann verstehe ich auch nichts, Frau Eysel.“

Lebhafte Gesichter, eine muntere Runde. Würden die Frauen nicht ab und zu aneinander vorbeireden, weil einige etwas schwerhörig sind, man könnte glatt vergessen, wie alt sie sind. Es sind Hausfrauen und Akademikerinnen, eine Krankenschwester, eine Buchhändlerin, eine Bäuerin, eine Lehrerin, die hier seit fast fünf Jahren unter einem Dach wohnen.

Die Idee zu einer Alten-WG entstand in den Achtzigerjahren im Verein Freie Altenarbeit Göttingen. Darin hatten sich Altenpflegerinnen und alte Menschen zusammengetan, die eines gemeinsam hatten: Sie wollten nicht ins Heim, die einen nicht als Betreuerinnen, die anderen nicht als Betreute. Unter Anleitung von Michael Jasper, dem damaligen Leiter der Göttinger Altenpflegeschule, entwarfen sie ein Gegenmodell zum klassischen Altenheim: Nicht die alten Menschen versorgen, sondern ihnen helfen, sich selbst zu versorgen. Jaspers Prinzip: „Bloß keine Betreuung!“

In eine Wohngemeinschaft zu ziehen konnte sich anfangs keine der Frauen so recht vorstellen. Zum Beispiel Frau Justus, heute 86 Jahre alt, die vorher allein auf dem Land gelebt hatte: „Ich hatte 160 Quadratmeter, hier sind es 40. Ich musste mich von so vielem trennen.“ Aber dann, sagt sie, als sie ihr kleines Reich in der ersten Etage zeigt, „dann habe ich gemerkt, wieviel unnötigen Ballast ich all die Jahre mit mir rumgeschleppt hatte. Ich habe so viel gelernt!“

Ich habe viel gelernt: Dieser Satz fällt immer wieder. Die 83-jährige Frau Plotzki zum Beispiel hat gelernt, „in einer Gruppe zu sein“. Andererseits: Zu viel Gemeinschaft – zum Beispiel immer gemeinsam zu essen – wäre ihr ein Gräuel. „Hier kann man sich auch zurückziehen in die eigenen vier Wände“, sagt sie. „Und es gibt keinen, der in die Hände klatscht und sagt: Alle mal herhören!“

Zuerst war es nur so eine Idee. Dann bot die Sozialdezernentin der Stadt dem Verein die sanierungsbedürftige Villa Am Goldgraben 14 an. Ein Glücksfall, denn das Haus war nicht nur riesengroß, sondern auch wunderschön: getäfelte Wände und Stuckdecken, bunte Jugendstilfenster und dunkle Holzböden, große Gemeinschaftsräume und helle Dielen, ein Balkon mit Abendsonne und natürlich der riesige Garten. Die Frauen beschlossen, den Schritt von der Theorie in die Praxis zu wagen. „Es war, wie von einem Dreimeterbrett zu springen“, erinnert sich eine.

Zunächst musste umgebaut und renoviert werden, ein Fahrstuhl musste her und ein behindertengerechtes Bad. 1,66 Millionen Mark kostete das, und noch heute scheint es dem Vereinsvorsitzenden Jasper wie ein Wunder, dass der kleine Verein das geschafft hat. Das Land Niedersachsen steuerte 500.000 Mark bei, dazu gab es Spenden, und für den notwendigen Kredit über eine Million Mark übernahm die Stadt eine Bürgschaft. Elf kleine Wohnungen zwischen dreißig und 47 Quadratmeter entstanden auf den drei Etagen, dazu zwei Gästeappartements. Im Erdgeschoss ein Gemeinschaftsraum und eine Bibliothek, außerdem eine große Küche mit drei Kochstellen. Und in den Kellerräumen bietet der Verein „Freie Altenarbeit“ Veranstaltungen für Alte und Junge, Bewohnerinnen und Gäste an, so dass es für die Frauen im eigenen Haus Möglichkeiten zur Begegnung mit anderen gibt.

Im Januar 1994 zogen die Frauen ein. „Es war chaotisch, überall Kisten“, sagt Frau Plotzki. Sie seien anfangs beileibe nicht nur glücklich gewesen, manche hätten tagelang geweint. Die Trennung von der alten Wohnung, die Umstellung, die vielen Leute. „Die ersten Monate haben wir uns in unseren Wohnungen verkrochen.“ Inzwischen, sagt Frau Plotzki, „haben wir gemerkt, dass es im hohen Alter in der Gruppe einfacher und schöner ist, und nebenbei auch billiger.“

Die Mieten liegen zwischen 685 und 1.115 Mark und damit weit unter den Kosten für einen Platz im Altenheim. Wer wenig Rente hat, bekommt außerdem einen Mietzuschuss aus dem Solidarfonds der WG.

Heute bezeichnen sich die Frauen als Wahlfamilie: „Wir sind frei und doch nicht allein.“ Jede Bewohnerin hat eine Aufgabe. Frau Plotzki, die sich in Buchhaltung auskennt, verwaltet die Gemeinschaftskasse, aus der die Putzfrau oder Pflanzen für den Garten bezahlt werden. Für den Garten sind zwei Frauen zuständig: eine für Rasen und Büsche, die andere für Rosen- und Kräuterbeete. Eine Frau holt morgens die Zeitungen und legt sie den anderen vor die Wohnungstüren, eine macht einmal die Woche für alle Karottensalat („Da bekommen sie Vitamine und ein Stück Zuwendung“). Und eine geht am Abend durchs Haus und schließt Türen und Fenster.

Die Aufgaben halten die Frauen fit, glaubt Michael Jasper. „Man darf nicht von den Defiziten der Alten ausgehen, sondern davon, was sie noch können.“ Das scheint zu funktionieren. Der Hausarzt jedenfalls, der anfangs jede Woche zur Sprechstunde ins Haus kam, schaut jetzt nur noch alle 14 Tage vorbei. Die Frauen sagen: „Wir sind alle gesünder geworden hier.“

Wäre es nicht angenehm, auch Männer im Haus zu haben? „Bei der Planung waren Männer dabei“, sagt Frau Plotzki. „Die wollten aber alle befrühstückt und bebügelt werden. Das kam nicht in Frage.“ Frau Richter, eine ehemalige Lehrerin, meint außerdem, dass die Gemeinschaft nur aus Frauen „demokratischer“ ist als eine gemischte Gruppe, weil die Frauen sich eher gleichberechtigt fühlen. „Ich fürchte“, sagt sie nach längerem Nachdenken, „wir sind froh, dass keine Männer dabei sind.“

Natürlich gibt es auch unter den Frauen Probleme, wie in jeder Gemeinschaft. Vom Ausdiskutieren wie in Studenten-WGs halten sie allerdings nichts. Eher gehen sie den Konflikten aus dem Weg. „Wir haben alle unsere Macken“, sagt Frau Plotzki, „oft müssen wir selber über uns lachen. Dann ist es hier wie in einem Mädchenpensionat 1910.“

Die Bewohnerinnen legen Wert auf Distanz. Vor dem Haus gibt es zwölf Briefkästen und zwölf Klingeln. Zusätzlich zur Gemeinschaftsküche im Erdgeschoss hat jede Wohnung eine Kochnische. Wer seine Wohnung verlässt, schließt ab. Und auch nach viereinhalb Jahren WG-Leben siezen sich die Frauen.

Dennoch ist die Villa mehr als ein Mietshaus mit elf Appartements. Man trifft sich zufällig im Treppenhaus, das die Frauen ihre „Fußgängerzone“ nennen, hält ein Schwätzchen auf dem Balkon, geht zu Zweit einkaufen. Frau Plotzki erinnert sich mit Grausen an die Zeit, als sie im Hochhaus lebte: „Ich hatte manchmal das Gefühl, ich hätte eine Tarnkappe auf. Die Leute haben mich gar nicht wahrgenommen. Hier wird man gesehen.“ Und wenn sich jemand einen ganzen Tag lang nicht blicken lässt, dann gibt es ganz sicher eine, die mal nachsieht, ob alles in Ordnung ist. „Wir sind so Kümmerer“, sagt Frau Gaber, die früher Krankenschwester war.

Dabei kennen die Frauen ihre Grenzen. Wenn eine mehr Unterstützung braucht, benachrichtigen sie deren Kinder. Wird eine ernsthaft krank, kommt eine Pflegerin der Sozialstation. Und für den Fall der Fälle sind die meisten Bewohnerinnen in einem Pflegeheim angemeldet.

Michael Jasper sieht es so: Die Wohngemeinschaft ersetze nicht andere Alteneinrichtungen. Sie sei nur „ein Mosaikstein in der Altenhilfe“. Einer, den die Frauen zur Nachahmung empfehlen. „Etwas Schöneres“, sagt eine, und sie sagt es gleich ein paar Mal, „etwas Schöneres hätte ich mir gar nicht vorstellen können für mein Alter.“

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