: Politische Notate eines Bohemiens
Klaus Harpprecht, Journalist und Willy Brandts Kanzlerredenschreiber, gibt in einem neuen, kenntnisreichen Buch präzise Einblicke in den gartenzwergigen und antiintellektuellen SPD-Intrigenklüngel der frühen Siebzigerjahre
von NORBERT SEITZ
Über das Zerwürfnis zwischen Willy Brandt und Herbert Wehner ist noch immer ein wahrer Historikerstreit unter SPD-nahen Publizisten im Gange. Nunmehr legt mit Klaus Harpprecht der einstige Chef von Willy Brandts Schreibstube nach. Sein Tagebuch aus der Zeit im Kanzleramt nimmt den Kampf gegen alle gängigen Brandt-Legenden auf: vom Urteil des „erschlafften“ und nur noch „auf Wolke 7 schwebenden“ Wahlsiegers bis zum düsteren Bild des von tiefer Depression und ehelicher Zerrüttung gezeichneten Melancholikers im Amt. Die Notizen wurden während Brandts Kanzlerjahren nächtens auf Bänder gesprochen, die später „auf mysteriöse Weise verschwunden“ seien. Das Typoskript hat Harpprecht nun überarbeitet und ergänzt.
1968 war der frühere ZDF-Korrespondent in Washington und Chef des S.-Fischer-Verlages aus spontaner Solidarität mit Brandt und Wehner der SPD beigetreten, als beide nach Bildung der Großen Koalition beim Nürnberger Parteitag von APO-Demonstranten tätlich angegriffen worden waren. Der Zugang des liberalen Schwaben zur SPD bleibt indes auf die bewunderte Person des großen Vorsitzenden fixiert. „Es war ein Hauch von Welt, den er aus der Emigration mitgebracht hatte.“ Er formuliert Brandts erfolgreiche Wahlkampf- und Parteitagsreden von 1972, kreiert das berühmte Label Compassion („Mitgefühl“), mit dem Brandt Wahlkampfarenen in andächtige Auditorien verwandeln konnte.
Harpprecht ist den Parteigranden nicht sehr willkommen, als er im Januar 1973 das Oberstübchen im Kanzleramt bezieht. Er gerät in den Strudel einer Partei, die mit ihrem Wahlsieg nicht fertig geworden ist. Wehner würdigt den Schöngeist keines Blickes; von Helmut Schmidts „Schärfe und Rücksichtslosigkeit“ gegenüber Brandt ist er schockiert. Daneben der „mittelgebirglerisch schlaue“ Geschäftsführer Holger Börner mit seiner „soliden Verachtung der Intellektuellen“.
Ein frustrierter Egon Bahr weiß nach seiner abgeschlossenen Mission in Osteuropa nicht viel mit sich anzufangen und verlegt sich auf Sticheleien gegen den neuen Kanzleramtschef Horst Grabert. Und Günter Gaus „weiß alles besser“. Kritiker wittern dagegen hinter Harpprechts Einfluss den „Einbruch der Bohemiens in die Politik“ (Erwin Scheuch), „Hofschranzentum“ (Helmut Schmidt), ja einen „bösen Geist“, der Brandts Entfremdung von der Partei geördert habe.
Veränderungen am Kanzler werden eifersüchtig wahrgenommen. Unter seinem neuen Schreiber rede Brandt zu elegant, monieren Bahr und andere, „das Ringende, Schwere, Stockende fehle“. Zunächst einmal liefert der Ästhet mit seinem Tagebuch eine Widerrede auf die Unterschätzung seines Metiers. Denn Redenschreiben für einen Regenten ist geistige Knochenarbeit: „Niemals in meinem Dasein – weder vorher noch nachher – habe ich geschuftet wie in jenen Bonner Tagen. Wenn die Termine drängten, schrieb ich oft die Nacht durch.“ Harpprecht schildert seine Arbeit an Brandts Reden zum Hannoveraner Parteitag, zum UNO-Beitritt der Bundesrepublik oder zum Staatsbesuch in Israel.
Am wichtigsten scheint indes der Entwurf für Brandts Buch „Über den Tag hinaus“, in dem der erste Versuch einer Strategie der Neuen Mitte entwickelt wird. Es ist eine programmatische Begründung des von den Liberalen Karl-Hermann Flach und Werner Maihofer geforderten „historischen Bündnisses“ zwischen Sozialdemokratie und Liberalismus. Doch die SPD scheint damit geistig überfordert und streitet lieber über Dritte Wege der Jusos oder Unvereinbarkeitsbeschlüsse gegen kommunistische Sekten.
Der Redenschreiber empfindet dagegen empfohlene Rekurse auf klassische SPD-Theoretiker à la Bernstein als „terribly oldfashioned“. 1973 ist ein Jahr der politischen Stagnation. Die Ost- und Entspannungspolitik hat an Attraktivität eingebüßt, das Verhältnis zur DDR entwickelt sich nur mäßig. Zudem stehen die wichtigsten Staatschefs auf Abruf: Georges Pompidou ist tödlich erkrankt, Richard Nixon heillos in die Watergate-Affäre verwickelt, und Edward Heath befindet sich kurz vor seiner Abwahl durch eine Labour Party, die mit dem fragwürdigen Versprechen eines EG-Austrittes punktet.
In der sozialliberalen Bonner Koalition machen sich derweil die Liberalen mausig. Während die Jusos programmatisch aus dem Ruder laufen, sorgt man sich bei Kanzlers um die Gründung einer Schülerunion. Der Steiner-Wienand-Skandal um das überstandene Misstrauensvotum von April 1972 nagt an der Glaubwürdigkeit des glorreich Wiedergewählten. Das berühmte Sonntagsautofahrverbot 1973 drückt auf die Zustimmung im Volke. Die Feier zu Willy Brandts 60. Geburtstag fällt aus. Und dennoch notiert Harpprecht Betriebsamkeit im Kanzleramt, als gelte es, das gängige Urteil zu durchkreuzen, die Sozialliberalen hätten ihr Pulver bereits verschossen.
Man erfährt, dass Brandt für die damals so vehement propagierte paritätische Mitbestimmung in Großbetrieben nicht viel Herzblut übrig hat. Er misstraut der „grundkalten Natur“ seines liberalen Vize Walter Scheel, der unbedingt Bundespräsident werden möchte: „Der Außenminister“ pflege „ganz ordinäre Vorurteile gegen Polen“ und fange an, „Weltmachtallüren zu zeigen“. Und dessen Nachfolger Hans-Dietrich Genscher? Brandt empfindet ihn „im AA als eine Unmöglichkeit“. Wehners berüchtigte Polemik in Moskau („Der Herr badet gerne lau“) gegen den SPD-Vorsitzenden gibt ausreichend Anlass, sich an Stil und Loyalität des alten „Zuchtmeisters der Nation“ zu reiben. Die Eifersucht zwischen Brandt und Wehner habe „ans Ridiküle“ gegrenzt.
Mit psychoanalytischen Termini versucht sich der Autor an Wehners „generell sehr deutscher Fäkalsprache“ und diagnostiziert einen „Analkomplex“. Doch Brandts Befund scheint treffender: „Wir sind alle verrückt, aber er ist es über das Maß.“ Wehner bleibt für Harpprecht der Sündenbock für die Misere, stelle er doch „durch seine bloße Existenz, sein bloßes Dasein die Autorität des Kanzlers permanent in Frage“. Er hält es für das entscheidende Versäumnis, dass Brandt nicht energisch Wehners Sturz als Fraktionschef betrieben habe.
Ende 1973 analysieren der Kanzler und sein Schreiber nüchtern die trostlose Lage: Heinz Kühn als stellvertretender Parteivorsitzender, Horst Grabert als Kanzleramtschef und der Liberale Rüdiger von Wechmar im Presseamt werden als gravierende Schwachstellen ausgemacht. Im Kabinett sei Helmut Schmidt „ein Sklave seiner Beamten“, Hans-Jochen Vogel „stehe nichts durch“, Horst Ehmke „habe sich verrannt“. Vorzeigbar seien nur Schmidt, ein wenig Erhard Eppler und Walter Arendt fürs Soziale, während alle FDP-Minister trotz ihrer Schwächen brillierten.
Mit Heinz Klunkers ÖTV-Streik im Januar 1974 liegen die Nerven endgültig blank. Der Kanzler „neigt zu Dramatisierungen“, und sein Schreiber schwingt die Faschismuskeule, als Ernst Nollaus Verfassungsschutz in Brandts sagenumwobenem Privatleben herumschnüffelt. Fuchsteufelswild wird er, als CDU-Fraktionschef Karl Carstens einen Paragraphen aus dem Kommunistischen Manifest über „Vielweiberei“ zum Besten gibt: „Seine Frau, die Ärztin, scheint ihm offenbar die falschen Spritzen zu geben“.
Schließlich schildert das Tagebuch auch die Gespräche mit Rut Brandt vor der Kanzlerdemission im Mai 1974. Sie glaubt nicht, dass ihr Willy die Abwicklung der Guillaume-Affäre und die Krise in der Partei gesundheitlich überstehen werde. Nach Harpprechts Zweiweltentheorie ist Brandt das Opfer einer innerparteilichen Ansammlung von Spießern, Neidern und Asketen geworden.
Diese Version dürfte nicht unwidersprochen bleiben. Welche Gefühle der scheidende Kanzler bewegen konnte, beweist einmal mehr die Reaktion seines Schreibers auf Brandts Rücktritt, für den damit „Weimar begonnen“ hatte: „Es ist falsch, falsch, falsch. Ich fürchte, das hält die Partei nicht aus, das hält der Staat nicht aus, das hält Europa nicht aus.“
Klaus Harpprecht: Im Kanzleramt. Tagebuch der Jahre mit Willy Brandt, Rowohlt Verlag, Reinbek 2000, 560 Seiten, 48 Mark
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