: Der Preis des Preises
Behinderte im Heim sind für das Sozialamt billiger als zu Hause ■ Von Sandra Wilsdorf
Vor kurzem hat Sozialsenatorin Karin Roth (SPD) Gerlef Gleiss noch die Schulter geklopft und ihm im Rathaus feierlich den mit 40.000 Mark dotierten Senator Neumann-Preis übergeben. Den bekam die Hamburger Assistenzgenossenschaft (HAG), die Gleiss gegründet hat und deren Aufsichtsratsvorsitzender er ist. Ein „vorbildliches Projekt der Selbstbestimmung behinderter Menschen“ hatte Roth es damals gelobt.
Heute verweigert das Sozialamt dem querschnittsgelähmten Gleiss die Hilfe der HAG. Sie sei zu teuer. Er solle einen billigeren Pflegedienst engagieren. Gleiss zog vor das Verwaltungsgericht, und der Richter ging sogar noch weiter: Ihm sei zuzumuten, in ein Pflegeheim zu ziehen. Bis Montag, 8 Uhr, hat Gleiss, der rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen ist, noch eine Assistenz. Und dann? Er hofft.
Da ist Gleiss nicht der Einzige. Ein anderer Schwerstbehinderter, der seit zwölf Jahren in einer eigenen Wohnung lebt und ambulant betreut wird, hat auch Post vom Sozialamt bekommen: Er solle in ein Pflegeheim. Der Allgemeinheit seien die sehr viel höheren Kosten der ambulanten Betreuung nicht zuzumuten. Kurios: Der Dienst, der ihm als zu teuer verweigert werden soll, ist derselbe, der Gleiss als die billigere Alternative zur HAG ans Herz gelegt wurde.
Offenbar haben beide keinen Grund zur Sorge: „Es gibt eine Besitzstandswahrung für Menschen, die schon vor 1996 ambulant betreut wurden“, sagt Marco Kellerhof, Leiter des Referates Pflege bei der BAGS.
Seine Chefin, Senatorin Roth, erklärt oft und öffentlich, dass sie für ein gleichberechtigtes Miteinander behinderter und nicht behinderter Menschen ist, verabschiedete ein Aktionsprogramm zur Integration Behinderter in den ersten Arbeitsmarkt und versicherte erst vor wenigen Tagen, dass die Sozialbehörde „frühzeitig reagiert“ habe auf den verkürzten Dienst der Zivildienstleistenden und die daraus resultierenden Folgen.
Die sind gravierend: „Ein Zivi, der netto nur noch ein gutes halbes Jahr kommt, ist für beide Seiten unzumutbar“, findet Gleiss, der seit 12 Jahren mit Zivis lebt. Er hat deshalb schon Anfang des Jahres einen Antrag auf ambulante Hilfe von der HAG gestellt. Zwei Monate hat die Behörde nicht reagiert, dann hat der Richter noch einen Monat gebraucht. „Deshalb wird es jetzt so eng“, sagt Gleiss.
Um diese und andere Probleme geht es heute, am „Europäischen Aktionstag für die Gleichstellung und gegen die Diskriminierung behinderter Menschen“, im Museum der Arbeit. Dort informieren und diskutieren ab 14.30 Uhr Vertreter von Behinderteneinrichtungen und -verbänden über die versprochene Neuorientierung in der Behindertenpolitik. Dazu gibt es Musik, Theater, Essen und Getränke.
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