: Vom Feindbild zum Fremdkörper
„Schicki-Mickisierung“, brennende Autos, bekleckerte Theatergäste: Vor zehn Jahren führte die Premiere des „Phantom der Oper“ zu einer neunstündigen Straßenschlacht in Hamburg ■ Von Kai von Appen
„Es ist immmer ein Fremdkörper geblieben“, resümiert der langjährige grüne kommunale Bauexperte und heutige Altonaer Regenbogen-Bezirksabgeordnete Olaf Wuttke. Das „Phantom der Oper“ in der Neuen Flora am Holstenbahnhof habe dem Stadtteil Altona – außer Verkehrsproblemen – wenig gebracht. Gestern vor zehn Jahren, anlässlich der offiziellen Premiere, lieferten sich mehrere hundert AnwohnerInnen mit Polizei und Bundesgrenzschutz eine neunstündige Straßenschlacht. Es entlud sich ein einzigartiger Protest gegen „Kommerzkultur“ und „Schicki-Mickisierung“, nachdem das Phantom in der Flora am Schulterblatt erfolgreich verhindert worden war.
Was sich an jenem Abend zwischen Roter Flora, Neuer Flora und Fischmarkt abspielte, war selbst für Hamburger Verhältnisse einmalig. Trotz 3500 PolizistInnen und Bundesgenzschützern gelang es in den frühen Abendstunden des 29. Juni 1990 mehreren hundert DemonstrantInnen, die Straßensperren zu umgehen oder zu durchdringen und bis zum Phantom-Portal vorzudringen. Dort mussten die Premierengäste Spießrouten laufen. Sie wurden beschimpft („Schämt Euch“) und bespuckt, ihre feine Gardrobe mit Flüssigkeiten und Farbe befleckt. Erst nach einem massiven Wasserwerfereinsatz konnte die Polizei den Eingang zur Flora freimachen und den Ehrengästen durch ein Spalier Einlass verschaffen.
Während drinnen die Prominenz mit deutlicher Verspätung Andrew-Lloyd-Webbers Phantom lauschen konnte, tobte draußen weiter die Randale. Immer wieder peitschten Strahlen von Wasserwerfern durch die Straßen und machten Greiftrupps Jagd auf ProtestlerInnen. Die wiederum deckten die Polizei mit Flaschen und Wurfgeschossen ein und tauchten danach in Flureingängen oder Torwegen unter. Bis tief in die Nacht brannten Barrikaden und umgekippte Autos, Einsatzzüge mit Blaulicht rasten kreuz und quer durch Altona und St. Pauli.
Selbst zur Sicherung des Premierengala-Essens in der Fischauktionshalle – das die Polizei am liebsten absagen wollte – war ein polizeilicher Kraftakt notwendig. Nur über Umwege und in Begleitung von starken Polizeieinheiten, Wasserwerfern und Räumpanzern konnten die Busse mit den Prominenten vom Phantom zum Fischmarkt gelangen. Viele Geladene mussten auf das Gala-Essen ganz verzichten. Tags darauf entschuldigte sich der damalige Innensenator Werner Hackmann (SPD) bei den Premiengästen für die Fehler der Polizei. Dagegen gab der damalige Sprecher der Kritischen Poli-zisten und heutige GAL-Bürgerschaftsabgeordnete Manfred Mahr dem sozialliberalen Senat, der das Phantom-Theater gegen das Votum der Bezirksversammlung Altona durchgepeitscht hatte, wegen der „unsensiblen Stadtteilpolitik“ eine „Mitverantwortung für die Eskalation der Gewalt.“
Dass die befürchtete Umstrukturierung der inneren westlichen City bis heute in drastischer Form ausgeblieben ist, ist zwar kein Erfolg der Phantom-Randale. Dennoch waren die damaligen Ängste der BewohnerInnen von Altona, St. Pauli, dem Karolinen- und Schanzenviertel durchaus begründet. Denn bei dem Phantom der Oper ging es nicht nur um ein Musicaltheater, es stand damals als Symbol für eine Stadtentwicklungspolitik , die noch zahlreiche andere Mammutprojekte geplant hatte. Nur knapp zwei Kilometer von der Neuen Flora entfernt sollte auf dem Heiligengeistfeld eine Mehrzweckhalle enstehen. Nach den Senatsplänen sollte die sogenannte „Monsterschüssel“ 17.000 BesucherInnen Platz bieten, umgeben von Einkaufspassagen und Edel-Lokalen. In Sichtweite waren Nobelhotels vorgesehen, der Supermarkt in der ehemaligen Rinderhalle – heute Wal-Mart – sollte plattgemacht werden.
Für den Kiez und das Schanzenviertel war eine gigantische Umstrukturierung geplant. Der Immobilien-Rechtsanwalt Hans-Erich Dabelstein hatte sich – vom Senat begünstigt – frühzeitig das Areal der Gewürzfabrik „Hermann Laue“ an der Schanzenstraße unter den Nagel gerissen. Dort sollte eine Ladenpassage des gehobenen Standards entstehen. Dabelstein sicherte sich zudem durch Kauf oder Optionen große Immobilen am Kiezanfang, Bowlingbahn, Eisenfabrik und Iduna-Hochaus. Er träumte von einem gigantischen Komplex im Torbogen-Flair quer über die Reeperbahn zwischen Simon-von-Utrecht-Straße und Zirkusweg. Die Immobilienhändler und Gastromonen Hubert Sterzinger und Claus Becker wollten gar den ganzen Kiez, auf dem bereits das Musical „Cats“ gastierte, aus den Dornröschen-Schlaf erwecken und aus der „sündigen“ eine Nobel- und Schickeriameile machen. Sie kauften Immobilien auf, besonders am Hans Albers-Platz, um aus den traditionellen Kneipen Edel-Lokale zu machen. Beckers Ziel damals: „Eine Verbindung von internationaler Kultur, Kommerz und Rot-Licht-Bezirk-Harmonie.“
Doch von den tollkühnen Plänen der Investoren ist wenig realisiert worden. Die Schüssel wurde nicht gebaut, das Dabelstein-Imperium kam ins Wanken, Sterzinger und Becker trennten sich. Auch die befürchtete „Schicki-Mickisierung“ rund um den Holstenbahnhof fand nicht statt, so dass das „Feindbild Phantom“ mittlerweile zum „Fremdkörper Phantom“ mutiert ist. „Das liegt an der Unattraktivität des Umfeldes“, schätzt Olaf Wuttke. Zwar sei abgewandertes Gewerbe ausschließlich durch gastronomische Betriebe ersetzt worden. Vereinzelt habe es auch Versuche gegeben, Mieten zu erhöhen. „Aber das ist lange nicht in dem Ausmaß eingetreten wie befürchtet“, sagt Wuttke. Die alteingesessene Gastronmie profitiere heute kaum vom Phantom. Schnell habe es die Musical-BesucherInnen zu den Orten getrieben, wo immer was los war.
Wäre das Phantom allerdings im Schanzenviertel gebaut worden, „dann wäre das anders gewesen,“ so Wuttke, „mit der gastromonischen Infrastruktur hätte sich schnell ein drastischer Wandel vollzogen.“ Unsprünglich wollte Stella-Production – allen voran ihr Chef Fritz Kurz – das Musical in der Alten Flora am Schulterblatt aufführen. Zu diesem Zweck liess Kurz 1987 den Anbau („1000 Töpfe“) des ehemaligen Theaters und Tanzpalastes abreißen. Nur die Fassade der „Flora“ wollte er für seinen Phantom-Palast nutzen. Doch diese Pläne scheiterten frühzeitig am Widerstand der AnwohnerInnen und an der Besetzung des fast 100 Jahre alten Gebäudes.
Heute, zehn Jahre später, läuft des Phantoms Zeit auch am Holstenbahnhof ab: Vor wenigen Tagen gab „Stella-Entertainment“ bekannt, dass das Musical zusammen mit „Cats“ im kommenden Jahr in Hamburg abgesetzt wird. Dennoch wird Bürgerschaftspräsidentin Dorothee Stapelfeld (SPD) heute zum 10. Jahrestag der Premiere das Phantom-Ensemble und Stella-Vertreter empfangen – um die Musicals als „bedeutenden Wirtschaftsfaktor“ für die Stadt zu würdigen.
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