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Die hohe Kunst des Zitierens

Heiner Müllers „künstlerischer Dialog“ mit fremden Texten zulässig. Karlsruher Richter weisen Klage von Brecht-Erben in zweiter Instanz zurück. Kunstfreiheit verkannt

FREIBURG taz ■ Heiner Müller durfte Bertolt Brecht sampeln, so viel es die Kunst verlangte. Dies hat nun das Bundesverfassungsgericht entschieden. Es hob damit ein Urteil des Münchener Oberlandesgerichts (OLG) auf, das dem Verlag Kiepenheuer & Witsch den Verkauf des Müller-Buches „Germania 3“ untersagt hatte.

Nach einer Klage der Brecht-Erben hatten die Münchener Richter entschieden, dass Müller zu viel zitiert habe. „Germania 3“ war das letzte Theaterstück des Ende 1995 verstorbenen ostdeutschen Dramatikers. Müller setzte sich hier vor allem mit dem Scheitern des sozialistischen Gesellschaftskonzepts auseinander und benutzte dabei auch eine Fülle von Eigen- und Fremdzitaten. In der Schlüsselszene „Maßnahme 1956“ stellte er die Proben zu Brechts Theaterstück „Coriolan“ am Berliner Ensemble nach. Diese Proben hatten stattgefunden, während in Ungarn der Aufstand niedergeschlagen wurde und die ostdeutsche Staatsmacht gegen Intellektuelle vorging. Weil Müller in dieser Szene seitenlang und ungenehmigt Brecht zitierte, gingen die Brecht-Erben juristisch gegen den Verlag Kiepenheuer & Witsch vor. Zunächst mit Erfolg. Müller habe keine „innere Verbindung“ zwischen eigenen Gedanken und den zitierten Brecht-Passagen hergestellt, urteilte das Münchener Landgericht vor rund zwei Jahren. Weder würde Brecht als Beleg angeführt noch grenze sich Müller von ihm ab. Vielmehr falle die Szene „Maßnahme 1956“ in sich zusammen, wenn man sich die Brecht-Passagen wegdenke.

Diesem für moderne Literatur gefährlichen Urteil hat Karlsruhe nun widersprochen. Das Oberlandesgericht habe „Bedeutung und Tragweite der Kunstfreiheit grundlegend verkannt“, entschieden die drei Richter des Bundesverfassungsgerichts. Die Kunstfreiheit schütze auch den „künstlerischen Dialog“ mit bereits vorhandenen Werken. Zitate in Kunstwerken könnten daher nicht mit dem gleichen Maßstab gemessen werden wie Zitate in Fachbüchern.

Die Karlsruher Richter erkannten an, dass Müller bei der Verwendung fremder Texte zugleich deren Geschichte, Rezeption und politischen Hintergrund in sein Werk „zu einem neuen Ganzen“ geführt habe. Sie verwiesen den Fall zurück an das OLG München.

CHRISTIAN RATH

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