: Ohne Ausbildung keine Bildung
taz-Serie „Migration und Bildung“ (Teil 6): ErzieherInnen und LehrerInnen werden in den Fachschulen und im Studium nicht darauf vorbereitet, wie sie mit Kindern nichtdeutscher Herkunft arbeiten müssen. Schulverwaltung hat jahrzehntelang Desinteresse an angemessener Lehrerfortbildung gezeigt
von JULIA NAUMANN
Inge Dittmer ist eine gestandene Lehrerin. Die Mittvierzigerin ist seit 22 Jahren im Schuldienst und hat schon viel erlebt. Unter anderem hat sie jahrelang an einer Gesamtschule gearbeitet. Doch ihre größte Herausforderung war der Wechsel auf die Andersen-Grundschule im Wedding. Dort wurde ihr 1993 eine 1. Klasse zugeteilt. Als Inge Dittmer die Kinder in der ersten Stunde bat, ihre Hefte aus dem Ranzen zu holen, wurde sie von einigen nur hilflos angestarrt: In der Klasse saßen fünf Kinder türkischer Herkunft, die überhaupt kein oder nur ein paar Brocken Deutsch sprachen.
Inge Dittmer hatte keine Wahl. Sie musste den Kindern Deutsch beibringen, sonst wäre der gesamte Unterricht aus den Fugen geraten. Und sie wollte den Kindern verständlich machen, was eine Blume, ein Baum, ein Butterbrot ist. „Ich habe versucht, ein Konzept zu entwickeln“, erinnert sich Dittmer. „Das war sehr schwierig, denn im Studium habe ich das nie gelernt.“ Am Anfang hat Inge Dittmer mit Händen und Füßen geredet. Sie wusste nicht, wie sie die Grammatik vermitteln sollte. Spezielle Unterrichtsmaterialien gab es keine. Schließlich verlangsamte sie das Tempo des Unterrichts so, dass auch die nicht Deutsch sprechenden Kinder nach einigen Wochen etwas verstanden. Dittmers Selbsteinschätzung: „Das war archaisch.“
Keine Systematik
In den vergangenen Monaten ist in der Öffentlichkeit viel über Migration und Bildung, über Sprachkurse und die Verantwortung türkischer Eltern geredet worden. Doch wie kompetent sind die LehrerInnen? Auch heute, sieben Jahre nach Inge Dittmers Erlebnis, sind die Berliner Schulen zwar nicht mehr ganz so rückständig, doch von einer systematischen Vermittlung der deutschen Sprache und dem Selbstverständnis einer interkulturellen Erziehung sind sie Lichtjahre entfernt. Das hat einerseits etwas mit der Struktur der universitären Lehrerausbildung und dem Angebot der Lehrerfortbildung zu tun, andererseits mit dem jahrelangen politischen Unwillen, anzuerkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland mit einer heterogenen Bevölkerung ist. Von den 375.000 SchülerInnen in der Hauptstadt sind immerhin 75.000 nichtdeutsch.
Nicht prüfungsrelevant
Die Qualität der Lehrkräfte misst sich maßgeblich daran, was sie im Studium lernen. Doch die Curricula sind nach wie vor archaisch. „Wer auf Lehramt studiert, muss mit interkultureller Pädagogik und Spracherwerb nie in Berührung kommen“, sagt Sanem Kleff, Mitarbeiterin am Landesinstitut für Schule und Medien, Lisum. Die winzige Ausnahme: Der so genannte Ausländerschein, der irgendwann im Grund- oder Hauptstudium gemacht wird. Der einsemestrige Schein ist nicht prüfungsrelevant, er ist durch eine Vorlesung über Drittwelt-Staaten ebenso zu erwerben wie durch eine Hospitation in einer türkischen Beratungsstelle.
Im Referendariat gibt es erst seit diesem Jahr die Verpflichtung, sich ein einziges Mal sechs Stunden mit dem Thema „Deutsch als Zweitsprache“ auseinander zu setzen. Alles andere ist freiwillig und hängt vom Engagement der Lehrenden ab. Systematisch beschäftigten sich nur eine Handvoll Professorinnen mit interkultureller Erziehung und Spracherziehung. „Es gab nach der ersten Einwanderungswelle einen Forschungsboom bis Anfang der 80er-Jahre“, sagt Ulrich Steinmüller, Professor am Institut für Erziehungswissenschaften an der Technischen Universität. Heute dagegen sei mit interkulturellen Forschungsvorhaben wenig Renommee und Geld zu machen.
Zwar besteht seit Oktober vergangenen Jahres die Möglichkeit, an der Freien Universität einen „Educational Master in Intercultural Education“ zu machen. Doch den Aufbaustudiengang besuchen nur rund ein Dutzend StudentInnen, die aus unterschiedlichen Ländern kommen. Er dauert ein Jahr. Dort werden verschiedene interkulturelle Ansätze und Lernstrategien gelehrt. „Wie bekommen das Handwerkszeug vermittelt, wie wir mit Kinder unterschiedlicher Herkunft umgehen“, sagt eine Teilnehmerin. So sei Frontalunterricht, bei dem die Lehrerin überwiegend nur an der Tafel steht, völlig veraltet, werde aber immer noch praktiziert.
Sprachlose Erzieher
Genauso dürftig, wie Lehrkräfte wenig auf den Alltag vorbereitet werden, sieht es bei den ErzieherInnen an den Fachschulen aus. Am Pestalozzi-Fröbel-Haus wird im dritten Semester in Soziologie der Schwerpunkt auf Migration und ihre kulturellen Rahmenbedingungen gelegt. Dort wird den angehenden ErzieherInnen vermittelt, was eine Duldung und was eine Aufenthaltsbefugnis, was der Islam ist und warum während des Ramadans gefastet wird. Sprachförderung ist Thema im Fach „Jugendliteratur“, doch Materialien, wie Kindern systematisch Deutsch beigebracht wird, gibt es kaum, sagt Helga Metzner, die seit Mitte der 70er-Jahre an der Fachschule lehrt. Die Folge: ErzieherInnen sind häufig nur wenig für Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache sensibilisiert, hat die Soziologin beobachtet. Viele seien überfordert, wenn die Kinder kaum Deutsch könnten. Manche ErzieherInnen redeten als Konsequenz überhaupt nicht mehr mit den Kindern.
Kein Nachwuchs in Sicht
Um dem etwas entgegenzusetzen, versuchten die Ausbilderinnen am Pestalozzi-Fröbel-Haus in den vergangenen Jahren, SchülerInnen nichtdeutscher Herkunft zu werben. Doch die Ergebnisse sind mager: 1994 waren es 25 MigrantInnen, heute sind es weniger als die Hälfte. An den Schulen sieht es ähnlich aus. Mitte der 80er-Jahre unterrichteten knapp 300 Lehrer türkischer Herkunft. Sie hatten in der Türkei studiert, waren meist Grundschullehrer auf dem Land. In Berlin arbeiteten sie in den 70er-Jahren in Fabriken, bis die Schulverwaltung ihr Potenzial erkannte. Die Hälfte von ihnen besuchten in Berlin Fortbildungen, die sie befähigten, zu unterrichten. Viele von ihnen sind mittlerweile pensioniert. Gerhard Weil vom Lisum schätzt, dass momentan nur noch 130 Lehrer türkischer Herkunft in Berlin arbeiten.
Nachwuchs ist nicht in Sicht: Nur ein Dutzend Referendare, so die Schätzung, sind nichtdeutscher Herkunft. Der Beruf der Lehrerin und der Erzieherin hat in der Türkei wenig Prestige – ein Grund für das geringe Interesse. Die Verwaltung würde es begrüßen, wenn mehr türkische StudentInnen auf Lehramt studierten, sagt Angelika Hüfner, Referentin von Schulsenator Klaus Böger (SPD). Bevorzugt eingestellt werden könnten sie aus rechtlichen Gründen jedoch nicht.
Sowohl Ulrich Steinmüller als auch Helga Metzner sprechen von „großer Hilflosigkeit“, wenn es um die Ausbildung der ErzieherInnen und LehrerInnen in Bezug auf interkulturelle Erziehung geht. „Das ist nicht davon zu trennen, dass immer noch eine politische Ignoranz herrscht, dass wir ein Einwanderungsland sind“, sagt Metzner. Steinmüller macht es konkret: „Alle Schulsenatoren haben bisher systematisch die Augen davor verschlossen, wie mit diesen Kindern umgegangen werden soll.“
Ein Projekt von unten
Dass heute in der Schulverwaltung zumindest nicht mehr von „Ausländerkindern“, sondern von Kindern „nichtdeutscher Herkunftsprache“ gesprochen wird, dass Deutsch als Zweitsprache und zweisprachige Erziehung als Lernmethoden Beachtung finden, liegt daran, dass immer mehr LehrerInnen ähnliche Erfahrungen wie Inge Dittmer machten und deswegen aktiv wurden. Einer von ihnen ist Michael Nové. Er bietet heute Fortbildungen am Lisum an und entwickelt eine Lern- und Lehrwerkstatt für Deutsch als Zweitsprache. Der 45-Jährige musste 1988 eine Aussiedlerklasse unterrichten.
Kinder, die kein Deutsch konnten, wurden in „Ausländerklassen“ oder Förderklassen gesteckt. Doch das waren nur Organisationsformen, erinnert sich Nové. Inhalte und Didaktik wurden damals weder von der Schulverwaltung noch in der Lehrerfortbildung vermittelt.
Deswegen hat Michael Nové mit anderen Kollegen Ende der 80er-Jahre eigenständig begonnen, Fortbildungen zu organisieren, erst im kleinen Kreis, dann an einigen Schulen. 1994 waren so viele LehrerInnen vernetzt, dass sie Fachkonferenzen gründeten, auf denen sie sich regelmäßig austauschten. 1998 waren bereits 15 Bezirke dabei. Die Schulverwaltung ignorierte die Eigeninitiative weitestgehend. „Das zusätzliche Engagement wurde nicht unterstützt“, erinnert sich Nové.
Fixierung auf Sprache
Der Wendepunkt kam 1998: Schlagworte wie „Ghettorisierung“ und „Verwahrlosung“ von Quartieren mit einem hohen Ausländeranteil bestimmten die öffentliche Diskussion. Nicht Deutsch, sondern Türkisch sei dort die dominierende Sprache, wurde kritisiert. Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) lud 1998 deshalb zu so genannten Innenstadtkonferenzen gegen die „Verslumung“ der Zentrumsbezirke. Ein Beschluss war unter anderem, Deutschkenntnisse früher und systematischer zu fördern, denn Sprache sei der Schlüssel zur Integration, befand man einhellig.
Die damalige Schulsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) verfasste ein Rundschreiben an alle Schulen, in dem erstmals von einer dezidierten Sprachförderung die Rede war. Die Senatorin bekannte sich dazu, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei: Zuwanderung ist kein vorübergehendes Phänomen, schrieb sie. Die Schule werde auch weiterhin Schüler aller Altersgruppen unterrichten, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.
Folklore statt Unterricht
Stahmer bekam Mittel für Lehrer, die sich speziell um Sprachförderung kümmern sollte. Die Gelder, die es auch schon vorher für die Förderung von „Ausländerkindern“ gegeben hatte, durften künftig nur noch für das Erlernen der deutschen Sprache verwendet werden.
Diese Einschränkung stieß gerade in Kreuzberger Grundschulen auf massiven Protest. Viele Schulen hatten das zusätzliche Personal benutzt, um die Klassen zu verkleinern oder interkulturelle Arbeitsgemeinschaften anzubieten. Ihr Argument: Dort würden die Kinder genauso gut Deutsch sprechen lernen. Teilungsklassen und Arbeitsgemeinschaften würde die Schulen auch für deutsche Eltern attraktiver machen und sie von einer Abwanderung abhalten. Interkulturelle Erziehung bedeute nicht nur Sprachförderung, sondern müsse Konzepte beinhalten, die sich an Einheimische und Zugewanderte in gleicher Weise richte. In Sprachkursen würden sich viele Kinder abgestempelt fühlen.
Angelika Hüfner, pädagogische Beraterin von Stahmer und jetzt von Schulsenator Klaus Böger (SPD) kritisiert dagegen, dass die zusätzlichen Stunden in der Vergangenheit häufig „undifferenziert“ verwendet worden seien. Zum Beispiel um eine türkische Familie zu Hause zu besuchen oder Folkloretanz zu lernen. Auch hätten viele „68er“-Lehrer es als Tabu gesehen, den Kindern Deutsch beizubringen. Denn das hieße, sie zu assimilieren.
Seit Stahmers Rundschreiben vor zwei Jahren hat sich einiges bewegt, doch es gibt nach wie vor kein Gesamtkonzept, sondern allenfalls Pädagogik-Häppchen. Eine konsequente interkulturelle Erziehung, in der nicht automatisch von der Vorstellung ausgegangen wird, dass MigrantInnen ein Problem darstellten, wird nur in einigen Modellprojekten ausprobiert. Die Schulverwaltung konzentriert sich nach wie vor auf die Sprachförderung.
Fortbildung light
Die ehrenamtlichen LehrerInnen um Michael Nové haben sich mittlerweile in 8 Regionen mit 16 Fachleitern organisiert. Auch Inge Dittmer ist eine von ihnen. Sie sind MultiplikatorInnen und informieren die Schulen über die neuesten Organisationsrichtlinien in jedem Schuljahr – zum Beispiel, wie viele zusätzliche Stunden für Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache beantragt werden können.
Diese Lehrer, die im Monat sechs Stunden für ihre Tätigkeit angerechnet bekommen und der Schulverwaltung mittlerweile berichtspflichtig sind, werden wiederum vom Lisum angeleitet. Das Fortbildungsinstitut schult auch individuell Schulen und LehrerInnen. „Wir sind bestellbar“, sagt Moderatorin Sanem Kleff. Im ersten Halbjahr dieses Jahres seien sechs komplette Kollegien über Sprachförderung instruiert worden. Doch das wird immer schwieriger, bemängelt Kleff, denn Fortbildungen dürfen seit Beginn dieses Schuljahrs nur noch außerhalb des Unterrichts stattfinden.
Kleff ist mit der Akzeptanz zufrieden. „Es könnten sich noch mehr Kollegen melden, doch dann hätten wir das Problem, das wir mit den Schulungen nicht hinterherkommen würden.“
Doch der Umfang der derzeitigen Lehrerfortbildung ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, sagen Kleff und Nové. Nové fordert, dass die Studierenden schon im Studium mehr in die Schulen gehen und sich verbindlich mit Sprachförderung auseinander setzen müssen. Die Lehrkräfte müssten mehr Hilfestellungen bei der Materialentwicklung bekommen. Schließlich müsse die einzelne Schule ihre Schülerschaft widerspiegeln. „Sprachliche und kulturelle Hintergründe sollten stärker berücksichtigt werden.“
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