: Die Gedanken sind frei
Soll im Kampf gegen den Rechtsextremismus auch Hasspropaganda verboten werden? Die deutsche Debatte übersieht das Wichtigste: die Frage der Meinungsfreiheit
von HORST MEIER
Was die Strafbarkeit von Meinungsdelikten im Internet anbelangt, ist die Rechtslage eindeutig: Alles, was offline verboten ist, ist auch online verboten. Für strafbare Inhalte sind daher nicht nur jene verantwortlich, die antisemitische und rassistische Propaganda ins Internet stellen. Nach dem Gesetz über Informations- und Kommunikationsdienste haften auch die Netzbetreiber, und zwar für alle elektronischen Dokumente, die sie „zur Nutzung bereithalten“. Daraus folgt, dass strafbare rechtsradikale Hetzparolen von den Netzbetreibern gelöscht werden müssen – allerdings nur in Deutschland und das heißt nirgendwo.
Denn die deutschen Paragraphen können in Wirklichkeit keine einzige rechtsradikale Website aus dem Internet verbannen. Und sie können auch nicht verhindern, dass solche Websites von Deutschland aus abgerufen und gelesen werden. Nicht die viel beschworenen Gesetzeslücken sind also das Problem, sondern die faktischen Grenzen einer nationalen Strafverfolgung, die in einem weltweiten Netz geradezu sympathisch hilflos wirkt.
Also werden von Softwareingenieuren so genannte Filterprogramme ausgetüftelt; also bemühen sich Staatsanwälte und Kriminalpolizisten, unterstützt von politischen Instanzen, kooperationsunwillige Provider und ausländische Behörden in die deutsche Strafverfolgung einzubinden. Vergeblich. Vor allem für die USA lautet die notorische Klage: „keine Antwort“ oder „Rechtshilfe abgelehnt“. So weit die technischen Probleme.
Eine Kleinigkeit kommt meist gar nicht zur Sprache: die Frage der Meinungsfreiheit. Sie ist auch irgendwie peinlich, haben doch viele, die jetzt im „Kampf gegen rechts“ nach dem Staatsanwalt rufen, vor Jahr und Tag die Zensur gegen links angeprangert. Die Empörung ermattet, wenn der politische Gegner kriminalisiert wird.
Dabei ist mit staatlichen Verboten das Grundrecht der Meinungsfreiheit berührt. Und zwar auf eine Weise, die gar nicht auf Besonderheiten des Internet zurückgeht. Die Frage der Zensur steht auf der Tagesordnung, seit die Erfindung des Buchdrucks mit der Forderung nach Meinungsfreiheit eine massenwirksame Verbindung einging.
Grundrechte und Zensur? Ist das nicht ein bisschen übertrieben? Ja, durchaus. So übertrieben wie immer, wenn die Freiheit lästiger, auf die Nerven gehender Minderheiten zur Disposition steht.
Nun ist es wirklich schwer einzusehen, dass widerwärtige Pamphlete, in denen der ungeheuerlichste Völkermord als Erfindung seiner Opfer bezeichnet oder Rassenmischung als „Völkermord an den Deutschen“ gegeißelt wird, dass ausgerechnet solche Pamphlete unter dem Schutz der Grundrechte stehen müssen. Es bereitet Unbehagen, die Freiheit des Andersdenkenden auf die „Ausländer raus!“-Parolen von Rechtsradikalen zu beziehen.
Man sollte allerdings nicht unterschätzen, wie rasch die Konjunktur der innerstaatlichen Feinderklärung umschlagen kann. Bundesanwälte haben jedenfalls schon versucht, den Zugang zur linksradikalen Zeitschrift radikal sperren zu lassen, die auf einem niederländischen Server gespeichert war. Aus Sicht der Bürgerrechte ist es ganz einerlei, was gerade als anstößig definiert wird: dass der Staat sich überhaupt anschickt, „Inhalte“, das heißt Denk- und Diskussionsprozesse zu kontrollieren, ist das Problem.
Angesichts des neuen Bedürfnisses nach staatlicher Aufsicht über den Meinungskampf sind daher einige grundsätzliche Fragen angebracht: Darf der Staat so etwas wie „falsche Ideen“ definieren und bekämpfen? Gibt es brauchbare Kriterien, strafbare von erlaubter Hasspropaganda zu unterscheiden? Rechtfertigt der Minderheitenschutz Eingriffe in die Meinungsfreiheit?
„Wir müssen erreichen, dass andere Staaten die gleichen Regelungen haben wie wir“ – hieß es kürzlich aus dem Bundesinnenministerium, gemünzt auf rechtsextremistische Umtriebe im Internet. Diese Sichtweise ist selbstgefällig. Ihr erscheinen die deutschen Paragraphen gegen Volksverhetzer und Holocaustleugner wie ein Exportschlager, der anderen gar nicht oft genug angepriesen werden kann. Vor allem die Vereinigten Staaten werden als befremdliche Schutzzone für Internetverbrecher beklagt: Kann man nicht auch dort endlich einsehen, wie der korrekte Kampf gegen Rassisten geführt werden muss?
Zunächst einmal wäre zu fragen, was es denn in den USA mit der Meinungsfreiheit auf sich hat, die dort als „Freedom of speech“, als Freiheit der Rede, buchstabiert wird. Aber Vorsicht! Es drohen Gewissheitsverluste. Am Ende könnten gar Zweifel aufkeimen, ob in Deutschland wirklich die beste aller denkbaren Rechtsordnungen erfunden wurde.
Dass dem Gemeinwohl am besten durch den freien Austausch von Ideen gedient ist und dass die beste Bewährungsprobe für die Wahrheit die Kraft des Gedankens ist, sich im Wettbewerb durchzusetzen – diese liberale Grundannahme prägt das amerikanische Verfassungsdenken. Auf dem Marktplatz der Ideen muss sich stets aufs Neue behaupten, was als vorläufige Wahrheit gelten darf. Nur in einem unaufhörlichen Diskussionsprozess, in dem ausnahmslos jede und jeder mit allen Ansichten gehört wird, lässt sich annäherungsweise klären, welche Politik dem Gemeinwesen dienlich sei: Öffentliche Vernunft erwächst aus dem ungehemmten Wettbewerb der Meinungen.
Als geistiger Vater dieses Marktmodells gilt der englische Philosoph John Stuart Mill, der 1859 seinen „Essay On Liberty“ herausbrachte. Er untersucht darin die Frage, wie weit die Macht gehen darf, die Staat und Gesellschaft über das Individuum ausüben. Im Kapitel, das der „Denk- und Redefreiheit“ gewidmet ist, schreibt Mill in diesem Schlüsseltext für das amerikanische Verfassungsverständnis: „Wenn erstens irgendeine Meinung zum Schweigen gezwungen ist, so kann sie nach allem, was wir wissen, dennoch wahr sein. Wenn wir das leugnen, so maßen wir uns Unfehlbarkeit an. Wenn zweitens die zum Schweigen verdammte Meinung wirklich einen Irrtum darstellte, so könnte sie – und sie tut es für gewöhnlich auch – doch einen Teil der Wahrheit enthalten. Da nun die allgemein herrschende Meinung über einen Gegenstand selten oder nie die ganze Wahrheit darstellt, so hat der übrige Teil nur durch den Kampf entgegenstehender Meinungen die Aussicht, eingebracht zu werden. Nehmen wir drittens an, dass die allgemein anerkannte Wahrheit die ganze Wahrheit darstelle. Wenn man nun aber nicht duldet, dass diese kräftig und ernstlich angegriffen werde, so wird sie von den meisten, die sich zu ihr bekennen, nur in der Art eines Vorurteils vertreten werden, mit wenig Verständnis oder Gefühl für ihre vernünftigen Gründe ...“
Mill postuliert die „heilsame Wirkung der Freiheit“ und die „absolute Freiheit der Meinung“ – und zwar in allen Dingen des Lebens: des Alltags, der Politik, der Wissenschaft, der Theologie. Die geistige Freiheit des Menschen gilt ihm als der Inbegriff von Freiheit überhaupt. Daher verteidigt er sie, wo immer ihm abweichendes Denken bedroht erscheint. Selbst eine Mehrheit, die demokratisch legitimiert ist, darf keinen gesetzlichen Zwang gegen Meinungsäußerungen ausüben: „Die beste Regierung“ habe „nicht mehr Recht dazu als die schlechteste“. Denn „der Zwang ist ebenso schädlich oder noch schädlicher, wenn er in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung ausgeübt wird“.
Das unveräußerliche Recht des Individuums, frei aussprechen zu dürfen, was es auf dem Herzen hat, wird indes nicht nur als subjektives Grundrecht verstanden, sondern auch als objektive Notwendigkeit: Die unverkürzte Freiheit, die jeder und jedem Einzelnen zugestanden wird, ermöglicht der Gesellschaft einen kollektiven, permanenten Lernprozess. Wer friedliche Meinungsäußerungen unterdrückt, verbietet daher nicht nur Einzelnen den Mund, sondern, so Mill pathetisch, begeht einen „Raub an der Menschheit“ – weil er die Quellen verschüttet, aus denen sich die „Kultivierung des Verstandes“ speist. Politische Urteilskraft schärft sich nur im offenen Meinungskampf.
Aus dieser Tradition erschließt sich die Emphase, mit der die Präambel der US-Verfassung feierlich erklärt: „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten“ erlassen diese Verfassung, in der Absicht, „uns und unseren Nachkommen das Glück der Freiheit zu erhalten“. Der amerikanische Urtext in Sachen Redefreiheit ist verblüffend einfach: „Congress shall make no law ... abridging the freedom of speech“, heißt es in dem First Amendment, dem ersten Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung von 1787, die vier Jahre später durch die Grundrechte der Bill of Rights ergänzt wurde: „Der Kongress soll kein Gesetz verabschieden, das die Freiheit der Rede verkürzt.“
Wer mit diesen Hintergründen von „freedom of speech“ vertraut ist, wird nicht alles unbesehen gutheißen, was die Rechtskultur der USA hervorbringt. Er kann aber besser verstehen, warum in Amerika Hitlers „Mein Kampf“ frei im Buchhandel erhältlich ist und warum dort Neonazis mit Hakenkreuzarmbinden unter Polizeischutz demonstrieren dürfen. Er kann wenigstens nachvollziehen, warum Meinungsdelikte wie die so genannte Auschwitz-Lüge, die hierzulande als Volksverhetzung abgeurteilt werden, in den USA unter dem Schutz der Redefreiheit stehen.
Zwischen Meinungsfreiheit und „freedom of speech“ liegen Welten. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten betont seit 1964, dem Jahr, in dem er eine viel gelobte Entscheidung zu Gunsten schwarzer Bürgerrechtler traf: Die Debatte über öffentliche Angelegenheiten solle „unbehindert, robust und weit offen“ sein. Dieser Grundsatz schützt indes nicht allein die Redefreiheit von diskriminierten Minderheiten, sondern auch die ihrer erbittertsten Gegner. Das zeigte sich, als der Supreme Court strafrechtliche Verbote prüfte, die in einzelnen Bundesstaaten gegen „Hate speech“, gegen die Hasstiraden von Rassisten, erlassen worden waren.
1969 fiel eine Entscheidung zu Gunsten eines Führers des Ku-Klux-Klan: Seine öffentlich geäußerte Ansicht, „Nigger“ gehörten „nach Afrika“ und „Juden nach Israel zurückgeschickt“, stehe unter dem Schutz der Redefreiheit, so das Gericht. Denn allgemein gehaltene Propaganda, die keine gewalttätigen Reaktionen provoziert, dürfe der Staat nicht verfolgen – selbst wenn viele sie als anstößig empfinden. Aus dem gleichen Grund lehnte es der Oberste Gerichtshof 1978 auch ab, Gerichtsentscheidungen aufzuheben, die das öffentliche Zeigen des Hakenkreuzes zum Fall der Redefreiheit erklärt hatten.
Eine konsequente, auch viele Amerikaner schockierende Fortsetzung fand diese Rechtsprechung, als 1992 selbst das „cross burning“ als Ausdruck der Redefreiheit bewertet wurde: Jugendliche verbrannten vor dem Haus einer schwarzen Familie, die es gewagt hatte, in ein weißes Wohnviertel zu ziehen, ein Holzkreuz – und bedienten sich damit jenes bösen Zeichens, mit dem Fanatiker des Ku-Klux-Klan Gewalttaten anzudrohen pflegen. Aus dem Gebot der Meinungsneutralität folge, so der Supreme Court, dass der Staat bestimmte Inhalte und Ideen nicht als solche ächten dürfe. Auch Symbole wie das Hakenkreuz oder „cross burning“ fielen daher unter die Redefreiheit.
Für praktisch alle Verbote, die gegen Rassenhetze erlassen wurden, bedeutet diese Rechtsprechung: Sie werden regelmäßig für verfassungswidrig erklärt, weil sie als „view-point discrimination“ eine politische Ansicht, in diesem Fall eben die von Rassisten über die multikulturelle Gesellschaft, diskriminieren.
Das geht zu weit! sagt das deutsche Rechtsgefühl, entschieden zu weit. Und man weiß gar nicht, wie man es beruhigen soll. Nur so viel: Der Supreme Court steht nicht in Verdacht, rechtslastig zu judizieren. Als er 1989 zu Gunsten eines jungen trotzkistischen Aktivisten entschied, „flag burning“, das öffentliche Verbrennen des Sternenbanners, falle als nonverbale Protestform unter die Redefreiheit, da waren Patrioten aller Parteien in heller Aufruhr. Sie versuchten, mit einem Sondergesetz die ehrwürdige Fahne unter Schutz zu stellen – und bekamen die Standfestigkeit des Gerichts zu spüren.
Natürlich sind der Redefreiheit auch in den USA Grenzen gezogen, nämlich dort, wo öffentliche Hetze in Gewalt umschlägt. Es ist schwer, diesen Punkt genau zu bestimmen, wie in allen Grenzfällen. Das Erfordernis tatsächlich drohender Gewalt ist aber als Maßstab unverzichtbar, will man legitimen Minderheitenschutz von der Unterdrückung der Meinungsfreiheit unterscheiden.
So urteilte der Supreme Court, nicht jede vage Aufforderung zum Gebrauch von Gewalt dürfe bestraft werden, sondern nur solche Äußerungen, die konkret geeignet sind, den öffentlichen Frieden unmittelbar zu stören. Nicht verbalradikale Sprüche, erst „fighting words“, also Gewalt provozierende Worte, dürfen verboten werden: weil sie, zum Beispiel eine aufgebrachte Menge anfeuernd, wirkliche Gefahren für Leib und Leben heraufbeschwören. Reine Klimadelikte hingegen, mit denen man in Deutschland gern „Signale“ setzt, verletzen das Recht der freien Rede – jedenfalls in den USA.
Was das für deutsche Verhältnisse bedeutet? Dass auch hierzulande die Kommunikation getrost verschärft werden darf – in Wort, Schrift und Bild, und natürlich im Internet. Die meisten Ressentiments gegen Juden und Ausländer sind ohnehin mit den groben Rastern des Strafrechts nicht zu erfassen, geschweige denn wirksam zu bekämpfen.
Minderheitenschutz sollte also nicht dafür herhalten, Zensur gesellschaftsfähig zu machen. Forderungen, die unbewusst solchen Tendenzen Vorschub leisten, sind deshalb so gefährlich, weil sie von sympathischen Leuten aus lauteren Beweggründen und noch dazu für eine gute Sache vertreten werden. Dagegen ist demokratischer Widerspruch fällig: Meinungsfreiheit erregt seit jeher öffentliche Ärgernisse, und das ist gut so. Sie gilt auch für jene, deren hasserfülltes Denken wir hassen.
HORST MEIER, 46, ist Jurist und Autor. Er lebt in Hamburg. 1993 erschien bei Nomos „Parteiverbote und demokratische Republik“; 1995 bei Rowohlt „Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie“ (gemeinsam mit Claus Leggewie). Den Text entnehmen wir der neuen Ausgabe (Heft 623) des „Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“ (Klett-Cotta, Stuttgart 2001, 19 Mark)
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