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Häuptling Tapoó

aus Stuttgart KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT

Auf der Höhe der Zeit ist Willi Hoss nur selten. Oft ist er dem Zeitgeist zwei, drei Schritte voraus. So wie im Augenblick: Solarzellen will er in knapp zwanzig Indianerdörfern in Brasilien aufstellen. Die sollen dort einmal Elektromotoren für die Pumpen von Entkeimungsanlagen antreiben, damit das mit Kolibakterien verseuchte Wasser des Flusses Guama aufbereitet wird. Auf die lauten Dieselmotoren, wie sie schon in drei kleinen Gemeinden in Amazonien auf Initiative von Hoss aufgestellt wurden, kann dann verzichtet werden.

Der 72-Jährige weiß, wovon er spricht. Drei Monate im Jahr arbeitet er im tropischen Regenwald. Seit Sommer 2000 ist er Häuptling der Kaapar-Indianer. Hoss heißt jetzt auch Tapoó, der Fels. Die Kaapar- und die Tembé-Indianer arbeiten unter Anleitung von Experten der Universität des brasilianischen Bundesstaates Pará mit an dem von Hoss initiierten Projekt gegen die Cholera. Für sein Engagement hat ihm die Hochschule einen Ehrendoktortitel verliehen.

In seinem Arbeitszimmer im wuchtigen Haus in Stuttgart-Degerloch denkt Hoss vor, in nostalgischem Ambiente. Die Wände hängen voll mit Bildern aus dem Regenwald, mit russischen Ikonen und Gemälden, die seine zweite Tochter Nina – heute als Schauspielerin und Sängerin erfolgreich – als Kind zu Papier brachte. Der Mann, der einmal Kommunist war, der die Grünen mit gründete und im Bundestag ihr Fraktionssprecher war, kann nichts wegwerfen. Aus Holz geschnitzte Figuren und Plastiken aus Metall stehen auf den Regalen. Auf den Kommoden tummeln sich Sorgenpüppchen aus Lateinamerika und Gartenzwerge aus Deutschland. Und von den abgewetzten Möbeln passt kaum ein Stück zum andern. Über dem karierten Hemd trägt Hoss eine ärmellose, beige Weste wie einst Joseph Beuys. Und die graublonden Haare sind immer noch ein bisschen lang. Willi Hoss: Jäger und Sammler? „Ja“, sagt er, „so wie die Indianer.“

Landarbeiter, die auf Brandrodungen verzichten, sind die Indianer inzwischen auch. So wie Hoss einmal einer war. Als junger Mann schuftete er nach dem Krieg als Knecht auf den Feldern am Niederrhein. Da war er schon Mitglied der KPD und versuchte, wie zuvor der Vater, die Landarbeiter gewerkschaftlich zu organisieren. Hoss weiß seitdem viel über Ackerbau und Viehzucht. Etwa wie man den Boden durch den Anbau von Mischkulturen länger fruchtbar hält. Das hat er den Indianern gezeigt. Das zweite Projekt des umtriebigen Pensionärs in Brasilien beschäftigt sich mit dem Klimaschutz durch den Erhalt des Regenwaldes – in Kombination mit Hilfe zur Selbsthilfe für die Ureinwohner.

Dafür und für das Wasserprojekt sammelt er Geld in Deutschland. Die Beutel öffnen sich. Denn der Name Hoss hat einen guten Klang in Baden-Württemberg. 1996 bekam er als Direktkandidat der Grünen bei den Landtagswahlen die von allen Wahlkreiskandidaten der Partei in Baden-Württemberg die meisten Erststimmen. Aber auf der entscheidenden Landesliste verbannten sie sie ihn nach hinten, „weil ich nicht täglich bei Fritz Kuhn angerufen habe, und ihm gesagt habe, wie toll er doch sei“. Das sagt Hoss in spitzem Ton.

Heute erwartet er nichts mehr von den Grünen. Dafür sorgen will er, „dass bald was Neues entsteht, jenseits der Grünen und auch der PDS.“ In der neuen Antiatombewegung sieht er einen Ansatz. Den Castorgegnern im Wendland hat er seine Unterstützung zugesichert: „Der Atomkonsens bedeutet die Legalisierung der nach wie vor mit unüberschaubaren Risiken versehenen nuklearen Energieproduktion im dicht besiedelten Deutschland.“ Im März 2001 brachte er einen Gegenvorschlag ins Spiel: Die in Reserve stehenden Öl- und Gaskraftwerke müssten zeitlich befristet mobilisiert werden, um die stillzulegenden Atomkraftwerke zu substituieren, bei gleichzeitiger Ausschöpfung aller Energieeinsparpotentiale und der Förderung alternativer Energien. Als Bundestagsabgeordneter hat er seiner Partei dieses Ausstiegsszenario schon einmal unterbreitet, was ihm wenig Freunde brachte. Ähnlich war es, als Hoss nach der Wende für den Verbleib von Deutschland in der Nato votierte. Sein Argument: Man wisse noch nicht genau, was im Osten mit einer Sowjetunion im Zusammenbruch geschehe. Auch da seien die Linken über ihn hergefallen, „allen voran Frau Beer“.

Wenn Hoss heute im Einbaum die Flüsse Amazoniens befährt, ist das für ihn alles „tausend Jahre her“. Aber Hoss sagt auch: „Ohne die Grünen wäre ich nie nach Brasilien gekommen.“ Als im Bundestag eine Liste kursierte, auf der alle Abgeordneten ankreuzen konnten, mit welchem Land sie engere Beziehungen pflegen wollten, entschied er sich für Brasilien: „Weil dort das größte Mercedes-Werk außerhalb von Europa steht.“ Aus dem Landarbeiter Hoss war nach dem KPD-Verbot 1956 nämlich der Daimler-Benz-Schweißer Hoss geworden. Da hatte er schon zwei Jahre Studium an der Ostberliner Karl-Marx-Hochschule der KPD hinter sich; bis zum Verbot hatte er im Bundesvorstand der Partei gesessen. Und er hatte eine kleine Familie. Um die ernähren zu können, schulte er um. Mit Landarbeit war nichts mehr zu verdienen.

Der Hochdruckschweißer Hoss landete bei Benz in Stuttgart. „Da hab ich erst einmal die Klappe gehalten, bis die Probezeit vorbei war.“ In Nordrhein-Westfalen war er zuvor wegen illegaler Parteiarbeit zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden. Doch die Kollegen merkten schnell, dass da einer reden konnte. Hoss wurde Betriebsrat. Mit den Funktionären der IG Metall gab es bald Zoff. Und als 1968 die 68er bei Benz Betriebsarbeit machten, stampften die alten und neuen Rebellen zusammen die Plakatgruppe als Konkurrenzliste zur IG Metall aus dem Boden. Als Hoss und seine Kollegen der Gewerkschaft dann auch noch die Fälschung von Betriebsratswahlen nachweisen konnten, war „der Bock fett“. Knapp 40 Prozent der Benz-Arbeiter votierten bei den anschließenden Betriebsratswahlen für die Plakatgruppe. Hoss flog aus der IG Metall. Von der KPD hatte er sich längst abgenabelt, von der DKP nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag auch.

Der Fabrik blieb Hoss dagegen bis heute verbunden. Als er 1985 als einer der wenigen Grünen tatsächlich rotierte, wurde er nicht Angestellter der Fraktion, sondern ging als Teilzeitarbeiter zurück in den Betrieb: als Schweißer. Das sei dann den „Rechten“ in der Fraktion „sehr suspekt“ gewesen, so Hoss.

Seine guten Kontakte zu Vorstandsmitgliedern des Automobilgiganten hat er reaktiviert – für die Indianer. DaimlerChrysler stellt fünf Millionen Mark für den Bau einer Fabrik in Brasilien zur Verfügung, in der ab Ende dieses Jahres Koskosfasern zu Kopfstützen und Rückenlehnen verarbeitet werden sollen. Profitieren werden davon viele Kleinbauern. Sie liefern das Rohmaterial. Das von Hoss mit angestoßene Projekt POEMA läuft seit 1992. Und DaimlerChrysler schreibt die Idee fort. In Südafrika werden demnächst Hutablagen für Autos gefertigt, aus Sisal. Den Menschen vor Ort werde geholfen, und ein nachwachsender Rohstoff werde genutzt.

„Allein das zählt“, sagt Hoss. Und noch etwas? Natürlich: Seine zweite Frau, mit der er jetzt 28 Jahre glücklich verheiratet ist. Und seine beiden Töchter. Dann holt Häuptling Tapoó das Fotoalbum raus und zeigt einen Schnappschuss: Hoss mit Federschmuck. Eine dicke Zigarre ersetzt die Friedenspfeife. Er könnte gerade schon wieder rüberfliegen, sagt er. Aber jetzt müsse er erst einmal nach Berlin – zum taz-Kongress. Willi Hoss: auch eine Art von Außenminister der Bundesrepublik Deutschland.

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