: Grüne entdecken die Familie
Für einen Augenblick haben die Grünen ihre Flügelkämpfe beiseite gelegt: In einem Papier fordern Bundes- und Landespolitiker eine kindgerechte Politik – mit Familien als „Verantwortungsgemeinschaften“ sowie kostenlosen Kitas und Ganztagsschulen
von SEVERIN WEILAND
Es begann mit einem Treffen in Ingersleben. Grüne Politiker, teils mit, teils ohne Kinder, trafen sich vor gut fünf Wochen im Hause von Katrin Göring-Eckardt, der parlamentarischen Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion der Grünen. Angeregt diskutierte man ein Thema, das bis dahin in der Partei eher ein Schattendasein gefristet hatte: die Familienpolitik.
Nun, nach einer abermaligen Zusammenkunft, liegt ein Papier vor, in dem die Gesellschaft aufgefordert wird, „Kinderfreundlichkeit zu ihrem zentralen Ziel“ zu erklären. „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt“, lautet der Titel, der in der Wortwahl an die Anfänge grüner Identitätsbildung erinnert. Dabei sind die zwölf Autorinnen und Autoren, die der zweiten Generation der Grünen angehören, durchweg zwischen 30 und 40. Und: diesmal haben sich Exponenten der verschiedenen Strömungen zusammengefunden. Neben Göring-Eckart ist auch ein Christian Simmert dabei, der den Linken in der Bundestagsfraktion zugerechnet wird.
Das Papier, das der taz vorliegt, wird von einer Reihe weiterer gewichtiger jüngerer Politiker mitgetragen. Darunter sind die Parlamentarischen Staatssekretäre Matthias Berninger und Simone Probst, der Innenpolitiker Cem Özdemir, die familienpolitische Sprecherin Ekin Deligöz, aber auch Landesgrößen wie der schleswig-holsteinische Umweltminister Klaus Müller. „Es ist uns wichtig, dass bei Differenzen im Einzelnen die Strömungen an diesem Punkt zusammenfinden“, sagt Göring-Eckardt, die Ideengeberin des Projekts. Simmert erinnert daran, welchen Weg manche Protagonisten zurücklegten: Noch 1999 habe man sich öffentlich über wirtschaftsliberale Thesen gestritten. Jetzt habe man an einem zentralen Punkt zusammengefunden: „Es gibt manchmal in der Politik Experimente – dies ist eines.“
Unter dem Leitmotiv „Kinder sind Bürgerinnen und Bürger“ versuchen die Autoren Brücken zu verschiedenen grünen Themen zu schlagen, unter anderem zu Ökologie, Verbraucherschutz, Arbeitswelt, Steuerrecht.
Im Gegensatz zu traditionellen Vorstellungen seien Familien „zuerst Verantwortungsgemeinschaften“, heißt es. Allein Erziehende, Mutter-Vater-Kind(er)-Familie, Patchwork-Familien mit Nachkommen aus unterschiedlichen Beziehungen oder homosexuelle Partnerschaften, die sich um Kinder kümmern – überall dort, wo Kinder und Jugendliche lebten, sei die „Gesellschaft in der Pflicht“.
Technik und Natur können aus Sicht der Autoren nicht losgelöst werden von der unmittelbaren Gegenwart und der Zukunft des Nachwuchses. So preisen sie etwa Solarenergie- und neue Transportsysteme als Chance für die Sicherung der „Lebensqualität der Kinder“, plädieren dafür, Schadstoffbegrenzungen an der Zumutbarkeit für Säuglinge und Kinder zu orientieren. Deutlich durchweht an vielen Stellen der sozialpolitische Tenor das Papier. Es müsse, heißt es etwa unter dem Stichwort „Gesunde Kinder“, die „Voraussetzung“ dafür geschaffen werden, dass „ausreichend Nahrungsmittel“ aus der Ökolandwirtschaft für Familien „erschwinglich sind“.
Eines der zentralen Elemente ist eine verbesserte Kinderbetreuung. Diese müsse „künftig kostenlos sein“. Um die Mitsprache der Eltern zu fördern, will man etwa kostenlose Betreuungsgutscheine für öffentliche und freie Einrichtungen zunächst „testen“. Im Zusammenhang mit der Einwanderung wird im Kindergarten das Augenmerk auf bilinguale und bikulturelle Erzieher gerichtet. Schulen sollen generell mehr im Wettstreit stehen, gerade freie Schulen seien hier oft Vorreiter für kindgerechte Schulen. Für Migranten der zweiten und dritten Generation wollen die Autoren eine Bildungs- und Qualifizierungsoffensive. Auch wird an einer Stelle des Textes von der „interkulturellen Schule als Regelschule“ gesprochen.
Im Kapitel zur finanziellen Absicherung finden sich einige bekannte grüne Modelle: Zusätzlich zum existierenden Kindergeld soll mittelfristig zur Bekämpfung der Kinderarmut eine Grundsicherung eingeführt werden: pro Kind/Monat bis zu 200 Mark. Damit wäre keine Familie mehr auf Sozialhilfe angewiesen, weil sie ein zusätzliches Kind bekomme, so die Autoren. Zur Finanzierung von „kostenlosen Kindertagesstätten und Ganztagsschulen“ möchte man das bisherige Ehegattensplitting durch ein Realsplitting ersetzen, das Kinder und nicht den Trauschein fördert.
Unternehmen und Gewerkschaften werden aufgefordert, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen – unter anderem durch betriebseigene Kinterbetreuung, flexible Arbeits- und Elternzeiten. Auch für die öffentlichen Verkehrsmittel werden familiengerechte Vorschläge gemacht: für die unter 14-Jährigen sollte die Beförderung kostenlos sein, Jugendliche ab 14 den halben Fahrpreis zahlen.
Das Papier, das mit Kenntnis der Parteichefs Fritz Kuhn und Claudia Roth erarbeitet wurde, soll beileibe kein Schattendasein fristen. Es sei „Diskussionsgrundlage“ für den Bundesvorstand und solle ins neue Grundsatzprogramm miteinfließen, sagt Göring-Eckardt.
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