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Ein Gedicht pro Laptopseite

Weiter, weiter, weiter: Die Literaturaktion „Poesie in der Stadt“ hat ganz Berlin mit Lyrik versorgt. Irgendwo gibt es auch Plakate mit dem Gedicht von Monika Rinck. Eine Spurensuche mit Dichterin

Innehalten, um ein Gedicht zu lesen und dabei vielleicht eine U-Bahn zu verpassen

von JÖRG PETRASCH

Erste Runde: Monika Rinck übernimmt die U- und S- Bahnhöfe, Unterführungen und Werbeflächen in Mitte und Tiergarten, ich den Stadtteil Friedrichshain. Ich finde Plakate mit Gedichten von Franzobel und Raoul Schrott, sie von Wolf Wondratschek und Jan Wagner, aber eins mit dem von Monika Rinck ist nicht dabei. Nach erfolglosen drei Stunden und etwa fünfzehn Plakatwänden pro Nase, die wir abgesucht haben, sie per Rad, ich per BVG, treffen wir uns am Hackeschen Markt. „sommer. das herz dieser stadt / schlägt nur noch alle vier stunden“: So wie ihr Gedicht klingt, nach dem wir suchen, kann es sein, dass es irgendwo ganz weit draußen im Grünen hängt und nicht mitten in der Stadt.

Jeder in der Berlin hat sie schon gesehen: rotbraune Schrift auf hellolivgrünem Untergrund und etwa sechs Quadratmeter groß, die Plakate der Literaturaktion „Poesie in der Stadt“. Darauf zu lesen sind noch bis Ende August anregende, um die Themen Stadt und Sommer kreisende Vier- bis Achtzeiler von einundzwanzig Autoren. Sie kontrastieren – als so genannte Füllplakatierung – auf insgesammt 4.000 Plakatwänden in Berlin und fünf weiteren Großstädten die urbane Medien- und Werbesprache. Inmitten von Kinderfreibetrag-, Altersvorsorge- und Bankwerbung wollen die Literaturhäuser der sechs Städte, die diese Aktion initiiert haben, um ihre Sache kämpfen: um Gedichte, die heute einen schweren Stand haben. Innehalten, um ein Gedicht zu lesen und dabei vielleicht sogar eine U-Bahn zu verpassen, wäre beispielsweise ein kleiner Sieg.

Monika Rinck steckt sich gleich am S-Bahnsteig Hackescher Markt eine Zigarette an. Der kleine Anflug von Nervosität verfüchtigt sich aber schnell, als wir das Interview beginnen. Denn sprachlich ist die in Berlin lebende Autorin umwerfend souverän, spontan und gleichzeitig wohl überlegt. Immer fließen die Worte druckreif wie von selbst an ihren Platz. Dabei wirkt ihr kleiner Auslautverdreher von „sch“ zu „ch“ umso sympathischer, ebenso wie ihre schwarzrandige Brille, die entfernt an die der Panzerknacker erinnert. Und sie ist verblüffend geerdet. Lyrik besitzt für die 32-Jährige gegenüber von Prosa den bestechend einfachen Vorteil, dass sie zeitlich und optisch überschaubar ist: „Ein Gedicht passt genau auf eine Laptopseite“, sagt sie. Für ihr zurzeit meistgelesenes Gedicht bemüht sie sich dann auch nicht, mit Kreativität und Eingebung zu argumentieren, sondern beschreibt konkret formale Prinzipien und inhaltliche Überlegungen, die eine „angepeilte Stimmung“ erzeugen sollen. In jedem Gedicht, erzählt sie, gebe es unverzichtbare Worte. In ihrem sei es „elektroholunder“: „tollende hunde, einer, ein weißer / wird elektroholunder gerufen“. Der Vierbeiner steht als optisches Signal exakt im Zentrum des Gedichts. Nach etwa einer Stunde geht es gemeinsam in die zweite Runde: S 8, Schönhauser Allee – Prenzlauer Allee – Greifswalder Straße – Landsberger Allee – Frankfurter Allee – Ostkreuz. Wir finden Marcel Beyers, Robert Gernhardts, Durs Grünbeins und Ulla Hahns Gedichte. Nur keins von Monika Rinck.

Während wir so von S-Bahnhof zu S-Bahnhof gondeln, denke ich mir, dass Monika Rinck eigentlich wie geschaffen wäre für eine Karriere als nachrückendes Fräuleinwunder aus Berlin. Sie sieht gut aus, ist eloquent und hat Talent. Doch steht ihr nicht der Sinn danach, auf den Zug des Berlinhypes aufzuspringen. Ebenso ausdauernd und stur, wie sie mit mir durch die Stadt zieht, verfolgt sie stattdessen ohne Rücksicht auf Verluste ihre eigenen literarischen Interessen.

Ende September erscheint in einem kleinen, ambitionierten Verlag, der edition sutstein, ihr Projekt „Begriffsstudio“. Seit 1994 hat sie dafür ungewöhnliche Worte und Begriffe gesammelt. Den letzten Begriff, die Nr. 1.000, fand die Autorin am vergangenen Sonntag bei der Siegerehrung der Tour de France: „heiliger Sebastian der Bergwertung“ für Laurent Jalabert. Für den kommenden Winter ist außerdem die Veröffentlichung ihres Prosatextes „die welt ist ein hotel aber ein schlechtes“ geplant: ein ursprünglich in Fortsetzungsepisoden geplanter Abenteuerroman, im dem zwei reale Personen als einzige Fixpunkte in einem ansonsten von allen rationalen Regeln befreiten fiktiven Kosmos auftreten.

Die Spannung steigt, und die Dichterin treibt unermüdlich zur Weitersuche an. Ich bin längst angesteckt. Inzwischen ist ihr Gedicht irgendwie auch meines geworden. Runde drei: S 46, Richtung Königs Wusterhausen. Treptower Park: Jürgen Becker. Plänterwald: Bingo – da hängt es, endlich, jenseits der S-Bahn-Gleise, direkt vor einer grünen Gartenanlage, im Hintergrund die Hochhäuserfront der Dieselstraße.

Es ist wie ein Showdown: Wir stehen am S-Bahnsteig Plänterwald und schauen beeindruckt auf das Plakat. Außer uns scheint es aber sonst niemand zu bemerken. Nur eine paar Schüler halten sich in der Nähe auf. Monika Rinck zündet sich eine letzte Zigarette an, geht entschlossen auf die Gruppe zu und befragt sie nach ihren Eindrücken. Eines der Mädchen liest das Gedicht laut vor und stolpert dreimal über das Wort „elektroholunder“. Wir stehen noch eine Weile andächtig davor: „während wir am überhitzten kühler lehnen / und rauchen dreht sich der tag in / richtung des regens“, endet das Gedicht.

Zum Glück dreht sich dieser Tag nicht Richtung Regen, nur die Sonne dreht sich tief nach Westen und geht direkt hinter dem Plakat unter. Als die nächste S-Bahn kommt, steigen wir ein und fahren zufrieden Richtung Horizont.

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