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Auslese im Schlafzimmer

Das narzisstische Elternrecht auf gesunde Kinder nimmt dem Nachwuchs das Recht auf eigene Entwicklung. Über „Selbstbestimmung“ in der Eugenik-Debatte

Ohne ein Mindestmaß anUnverfügbarkeitgibt es keineigenes Leben

Heute werde der 10.000ste verbrannt. Hierzu habe sich das gesamte Personal einzufinden, erklärt Dr. Berner beim Mittagstisch. „Wir versammelten uns dann gegen Abend, jeder empfing eine Flasche Bier. Im Keller war auf einer Bahre ein nackter männlicher Toter mit einem großen Wasserkopf aufgebahrt. Es wurde auch Musik gemacht. Die Trinkerei artete dahin aus, dass ein Umzug durch das ganze Gelände stattfand.“

Was ein Augenzeuge mit dürren Worten anlässlich der „Feier der zehntausendsten Leiche“ in der Euthanasieanstalt Hadamar im August 1941 beschreibt, verbinden wohl viele mit Eugenik: Tausende „eingeschläferte“ Kinder, zehntausende Behinderte, die vergast oder mit Spritzen oder Tabletten vergiftet wurden. Aufgrund dieser NS-Praktiken wurde Eugenik zum Unwort. Dabei war die Bindung eugenischer Praktiken an Gewalt und Bestialität weder in der Vergangenheit zwingend, noch ist sie angesichts der biomedizinischen Entwicklung künftig notwendig.

Neben der nationalsozialistischen gab es in der Weimarer Republik auch eine breite Eugenikbewegung in der linksliberalen Ärzteschaft und innerhalb sozialdemokratischer und kommunistischer Organisationen. Ihnen galten Eugenik und Sozialismus als zwei einander ergänzende Formen der Gesellschaftsverbesserung. Zwar besaß auch diese sozialistische Eugenik ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt: So wurden Zwangssterilisationen durchaus wohlwollend diskutiert. Im Unterschied zur NS-Praxis wurde die Tötung von behinderten Menschen aber nicht ins Auge gefasst. Vielmehr warb etwa die besonders stark von eugenischen Zielen bestimmte sozialdemokratische Frauenbewegung für „Selbstbeherrschung“ und Aufklärung, um „minderwertigen“ Nachwuchs zu verhindern. Oder man setzte auf eine liberale Abtreibungsregelung, um eine Auslese „schlechter Gene“ zu ermöglichen.

An diese traditionell von Liberalen, Linken und Feministinnen vertretene „sanfte“ Eugenik knüpft die heutige Humangenetik mit der Kombination von vorgeburtlichen Untersuchungen und Schwangerschaftsabbruch an. Dies zielt freilich nicht primär auf die von einer wissenschaftlichen Eugenik angestrebte Verbesserung der genetischen Zusammensetzung einer Bevölkerungsgruppe. „Eugenik im Schlafzimmer“ verheißt vielmehr im Namen selbstbestimmter Elternschaft die Geburt eines „normalen“ Kindes.

Doch die Nähe zum Töten und zur Auslese bleibt insbesondere bei späten Schwangerschaftsabbrüchen offenkundig: Während im Kreißsaal alles zur Rettung eines „Frühchens“ unternommen wird, liegt im Nachbarzimmer ein entwicklungsgleiches Baby nur in eine Decke gehüllt – ein Kind, das seine durch eine Geburtseinleitung erfolgt Abtreibung überlebt hat. Betretene Gesichter des Klinikpersonals. Doch die Operation ist erst gelungen, wenn der Patient tot ist.

Neue Diagnoseverfahren wollen künftig solche Spätabbrüche vermeiden, indem sie schon in einem frühen Schwangerschaftsstadium Klarheit verschaffen. Zugleich geraten neben der kleinen Gruppe klassischer Erbkrankheiten auch die genetisch mitverursachten Volkskrankheiten – Krebs, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen – ins Visier vorgeburtlicher Rasterfahndung. Die bei künstlicher Befruchtung praktizierte Präimplantationsdiagnostik (PID) verspricht sogar eine Selektion ohne Abtreibung.

Einmal zugelassen, lässt sich dieser Test nicht auf die vergleichsweise kleine Gruppe von Eltern beschränken, die ein hohes Risiko für eine Erbkrankheit besitzen. Vielmehr dürfte sich die PID da als Regelverfahren etablieren, wo sich Frauen ohnehin den Prozeduren künstlicher Befruchtung unterziehen. Wer will ihnen das Risiko einer genetischen Veranlagung für Darmkrebs oder Diabetes beim Kind zumuten? Und was ist daran frevelhaft, wenn diese Eltern unter den verfügbaren Embryonen jenen auswählen, der am besten zu ihnen passt? Schließlich verbringen Eltern mit ihren Kindern einen Großteil ihres Lebens. Warum soll man sich den Nachwuchs nicht so aussuchen wie den Ehe- oder Lebenspartner?

Solche individuellen Fortpflanzungsentscheidungen haben noch keinen unmittelbaren eugenischen Effekt. Doch akzeptiert man im Namen von Selbstbestimmung und Leidvermeidung Selektion, dann gibt es keinen plausiblen Grund mehr, auf eine gezielte Eugenik zu verzichten. Mittels Reihenuntersuchungen wissenschaftlich abgesichert, ließen sich langfristig Mukoviszidose, Veitstanz oder bestimmte Darmkrebsformen ausrotten und so – quasi nebenbei – die biologischen Grundlagen der Gesellschaft verbessern. Eine solche an individuellen Wünschen anknüpfende Eugenik unterschiede sich deutlich von den NS-Praktiken. Was aber wären die Folgen, wenn Menschen Resultate gezielter Selektion sind?

Als soziale Bewegung entwickelt Eugenik ein Eigenleben. Doch ebenso wenig wie die eugenische Bewegung der Vergangenheit sich um wissenschaftliche Redlichkeit scherte, wird der Alltagsverstand künftig begreifen, dass Genmedizin meistens nur Wahrscheinlichkeiten für Erkrankungen und Verhaltensdispositionen vorhersagen kann.

Veränderte soziale Erwartungen steigern die Ablehnung kranker und behinderter Menschen in dem Maße, wie ihre Geburt verhindert werden kann. An die Stelle der Solidarität mit Kranken tritt die Solidarität mit jenen, die durch behindertes und krankes Leben belastet werden. Zu den Leidtragenden gehören auch jene Kinder, die die Auswahl überleben. Sie haben keine Wahl, sondern wären Gefangene einer Ideologie der Abrichtung und Selektion.

Eltern könnten sich ihre Kinderso aussuchenwollen wie ihre Ehepartner

Freiheit wird zwar nicht dadurch zerstört, dass man über das genetische Programm eines anderen entscheidet. Denn jeder Mensch ist mehr als die Summe seiner Gene. Egal, ob sich meine genetische Ausstattung dem Zufall oder einem Geningenieur verdankt, ich entscheide über mein Handeln. Doch in dem Maße, wie Kinder den durch die Biomedizin angefeuerten Erwartungen ihrer Eltern unterworfen sind, verlieren sie den Spielraum, einen eigenen Weg zu gehen. Noch als Erwachsene blieben sie in den Rollenzumutungen ihrer Kindheit gefangen.

Ohnehin sind Kinder häufig ein Objekt unbewusster Fantasien ihrer Eltern, Ersatz für einen erwachsenen Lebenspartner, Mittel des elterlichen Prestigestrebens oder einfach eine Projektionsfläche: Man will im Kind verwirklichen, was einem selbst misslang. Solche Elternsehnsüchte verhärten sich künftig in dem Maße, wie die Biomedizin die Illusion nährt, Leistungsfähigkeit, Intelligenz oder Begabungen seien herstellbar.

Am Ende stünde statt der nazistischen eine narzisstische Eugenik, die den Eigensinn Heranwachsender nicht mehr toleriert. Ohne ein Mindestmaß an Unverfügbarkeit und an Selbstbestimmungsrechten für Kinder und Jugendliche – auch gegenüber Eltern, die ihren Nachwuchs als „Privatsache“ betrachten – gibt es kein eigenes Leben. Diese zivilisatorische Errungenschaft steht mit der neuen Eugenik zur Disposition. HARRY KUNZ

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