: Die formierte Öffentlichkeit
Richard Lugar, der republikanische Senator aus Indiana, ist intelligent und kennt sich gut in außenpolitischen Fragen aus. Ende voriger Woche wurde Lugar zu der akuten regierungsamtlichen Warnung vor Terroranschlägen befragt. Er antwortete, dies sei die fünfte amtliche Terrorwarnung in den letzten paar Wochen – und insofern nichts Neues.
Lugars Antwort war ebenso erfrischend wie ungewöhnlich. Denn die US-Öffentlichkeit wird derzeit von einer Angst beherrscht, deren Heftigkeit nur durch ihre Diffusität übertroffen wird. Verzweifelte Appelle an die nationale Solidarität und ein fast devotes Verhältnis zur Regierung prägen das öffentliche Klima. Die traditionell skeptische Haltung der US-Amerikaner zur Regierung scheint ebenso verschüttet zu sein wie ihr fast gläubiges Vertrauen in die Zukunft.
Die US-Demokratie wirkt wie stillgelegt. Schuld daran sind vor allem die Medien. Als das Weiße Haus forderte, dass die Medien die Regierung zu fragen haben, ob das Bin-Laden-Video gezeigt werden darf – da parierten die großen TV-Gesellschaften. Ist es übertrieben, so etwas Zensur zu nennen? Die Kolumnisten in den wichtigen Blättern scheinen sich gegenseitig in ihrem martialischen Ton übertreffen zu wollen. Der Angriff auf Afghanistan, so viel steht für sie fest, reicht längst nicht aus. So diskutiert man, ob als nächstes Irak, Iran oder doch lieber Syrien drankommen sollte.
Berichte, die sich mit dem kolossalen Versagen der Geheimdienste vor dem 11. September beschäftigen, sind hingegen auffällig rar. Kritik findet nicht statt. Redakteure, die ihr journalistisches Ethos gegen die Uniformierung der öffentlichen Meinung verteidigen, sind selten. Immerhin gehört Howell Raines dazu, Pulitzerpreisträger und seit kurzem leitender Redakteur der New York Times. Raines erklärte, dass die Zeitung ihren Lesern verantwortlich sei – und nicht dem Weißen Haus.
Gewiss, die Medien machen die öffentliche Meinung nicht, sie spiegeln und verstärken sie. Dass die Hysterie das Klima so eindeutig beherrscht, mag auch daran liegen, dass der Feind den US-Amerikanern noch immer unfassbar erscheint, dass die Bedrohung durch die rätselhaften Milzbrandbriefe so unheimlich wirkt.
Das Resultat ist trostlos: Es gibt in den USA, ganz anders als zum Beispiel während des Vietnamkriegs, so gut wie keine Opposition. Ein paar versprengte Reste der Antiglobalisierungsbewegung haben ein paar kleine Antikriegsdemonstrationen organisiert, das ist fast alles. Die US-amerikanische Zivilgesellschaft scheint sich seit dem 11. September in eine Art Kirche verwandelt zu haben. Der Präsident tritt als Pontifex maximus auf, die religiöse Lehre feiert die heilige Nation, die Eschatologie gilt dem puren Heute. In dieser Verschmelzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Politik und Religion, von Staat und Nation, erscheint alles Abweichende als lästig, ja als unnatürlich.
Das betrifft nicht nur die Medien, sondern auch die Politik. Sie hat jede Lebendigkeit verloren. Im Senat ist jede, wirklich jede Kritik am Führungsstil von Präsident Bush verstummt. Es gibt keine Debatte mehr über politische Absichten und Ziele, ganz zu schweigen von Debatten um Alternativen. Die Demokraten verfügen im Senat über die Mehrheit – und sie stellen die Vorsitzenden in den wichtigen Ausschüssen für Militär- und Außenpolitik: Carl Levin und Joseph Biden. Beide sind kluge, erfahrene Senatoren, beide gehörten bis zum 11. September zu den Kritikern von NMD (1), von Bushs Unilateralismus (2) und seiner Neigung, neue Waffensysteme neuen Ideen vorzuziehen. Doch das ist lange, lange her – in einem Orwell’schen Erinnerungsloch scheint sogar die Erinnerung verschwunden zu sein, dass es möglich war, den Präsidenten zu kritisieren. Die Demokraten haben durch ihr eigenes unterwürfiges Verhalten die Position der autoritären, chauvinistischen Kräfte befestigt: Kritik am Präsidenten ist Subversion, fast Landesverrat.
Das Desaster der Terroranschläge in New York hat eine Semantik hervorgebracht, die in den neoliberal geprägten USA ungewohnt ist. Der Slogan der ersten dreißig Tage lautete: Solidarität. Die Helden waren Zivilisten, Feuerwehrmänner. Doch es ist kaum damit zu rechnen, dass sich diese Semantik zu etwas dauerhaft Neuem verstetigt – im Gegenteil. Wir erleben derzeit eine sozial „leere“, aber politisch effektive Mobilisierung gegen wirkliche und unwirkliche Bedrohungen. Wir erleben eine radikale Entpolitisierung der Nation.
George W. Bush ist als Führer unumstritten – vergessen ist der armselige Eindruck vom 11. September, als er nicht gewagt hatte, nach Washington zurückzukehren. Heute wiederholt Bush die stets gleichen, widersprüchlichen Formeln. Mal sagt er, dass der Kampf gegen den Terror Jahre dauern wird – dann versichert er, dass kein richtiger Bodenkrieg in Afghanistan bevorsteht. Mal ermutigt Bush die Bürger, so weiterzuleben wie bisher – dann warnt er sie vor neuen Gefahren. In wohl jeder westlichen Demokratie würde die Opposition und die meinungsbildende Elite fragen: Weiß unsere Regierung eigentlich, was sie will? Oder reichen ihre Pläne nur für fünf Tage?
Momentan gilt Kritik an Bush als anstößig, als unpatriotisch. Und trotzdem scheint das Weiße Haus nervös zu sein. Die Devise heißt Abschottung. Den Ausschüssen im Kongress will Bush künftig wichtige, geheime Informationen vorenthalten. Die Washington Post wurde vom Weißen Haus gedrängt, einen Text des „Watergate“-Journalisten Robert Woodward nicht zu veröffentlichen. Die Pressekonferenzen des Verteidigungsministeriums sind leere Schönfärberei, außerdem drängte die Bush-Administration die Regierung in Katar, den arabischen TV-Sender al-Dschasira zu schließen. All das zusammengenommen erinnert an Richard Nixons und Henry Kissingers obsessive Versuche, während des Vietnamkrieges alle Informationsflüsse unter Kontrolle zu haben. Nixon hatte damals etwas zu verbergen (3). Bei Bush fragt man sich, ob von Politik, von einer klar definierten Strategie, eigentlich die Rede sein kann.
Offenbar nicht. In der Regierung existieren konträre, konkurrierende Politikentwürfe. Was Bush will, ist noch nicht entschieden. Man erinnere sich an den Brief, den John Negroponte (4) an die UN schickte. Darin erklärte er, dass sich die USA das Recht vorbehalten, außer Afghanistan auch andere Länder anzugreifen, die Terroristen beherbergen. Dieser Brief wurde direkt vom Weißen Haus abgesegnet – und zwar ohne dass Negropontes Vorgesetzter, Außenminister Colin Powell, davon einen blassen Schimmer hatte.
Powells Rolle ist klar: Er verkörpert die Stimme der Vernunft, der Mäßigung, er hat diplomatisch die Antiterrorkoalition geschmiedet – ein Held komplexen Denkens. Taktisch gesehen ist die Zwiespältigkeit der Bush-Regierung durchaus ein Vorteil. Wellington soll mit Blick auf seine Truppen vor der Schlacht von Waterloo gesagt haben: „Ich weiß nicht, ob sie den Feind in Angst und Schrecken versetzen – ich hätte jedenfalls Angst vor ihnen.“
Powell kann eine ähnliche Pose reklamieren: Aufsässige Alliierte bringt er mit dem Hinweis zur Raison, dass nur er allein zwischen ihnen und einer grimmig entschlossenen Regierung steht. Deren Politik wird von Leuten wie Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz dominiert, der kürzlich öffentlich forderte, dem Irak den Garaus zu machen. Oder von Figuren wie James Woolsey (5), der erklärte, dass die USA keine Rücksicht auf ihre Alliierten nehmen werden. Und es gibt in der Tat eine Menge Senatoren und Kongressabgeordnete, die Alliierte für überflüssigen Firlefanz halten.
Trotz dieser recht nützlichen Ambivalenz der US-Politik, des Doppelspiels von Drohen und Einbinden, ist Powells Aufgabe mehr als kompliziert. Er muss eine Antiterrorkoalition zusammenhalten, die diesen Namen kaum verdient. Denn in dieser Koalition herrschen extreme Zentrifugalkräfte, die widersprüchlichen Interessen liegen auf der Hand. Das ist der Rahmen, der Powells Einfluss begrenzt – mag er noch so clever verhandeln.
Die öffentliche Meinung in den USA hält sich ohnehin lieber an die enthusiastischen Solidaritätsbekundungen der westlichen Verbündeten. Tony Blair betrachtet man in den USA derzeit als souveränen Erben von Winston Churchill – die Peinlichkeit, dass er letzte Woche in Saudi-Arabien nicht empfangen wurde, übersah man lieber. Wenn europäische Regierungschefs die führende Rolle der USA bekräftigen, ist dies auf allen Kanälen zu vernehmen. Wenn sie andere Töne anschlagen, beruhigt man sich damit, dass sie dies aus Rücksicht auf irgendwelche pazifistischen Strömungen im eigenen Land tun müssen. Auch Gerhard Schröders markige Sätze wurden begierig zitiert. Seine Äußerungen im Bundestag, dass Deutschland sich in kein Abenteuer verwickeln lassen wird, hat man lieber überhört.
Dieses transatlantische Missverständnis hat freilich zwei Seiten: die US-amerikanische Hörschwäche und die kontinentaleuropäische Verzagtheit. Die Europäer haben in Washington durchweg weltgewandte, kluge Botschafter, die ziemlich genau wissen, wie beschränkt und egozentrisch der Blick der US-Außenpolitiker oft ist. Die Westeuropäer könnten sich deutlichere Kritik leisten. Das wäre ein effektiverer Beweis transatlantischer Freundschaft als jene kuriose Mischung aus euphorischen Solidaritätsbekundungen und verdrucksten Ankündigungen, sich lieber herauszuhalten.
Die Bush-Regierung hat auf den Terror vom 11. September mit dem Rückgriff auf ein vertrautes amerikanisches Repertoire reagiert: mit einer militärischen Polizeioperation. Man hat mit Geld eine instabile Koalition organisiert und eher vage angekündigt, irgendwann echte Entwicklungshilfe zu leisten. Die gegenwärtigen Bombardements stürzen ein im Elend lebendes Volk jedenfalls in noch größeres Elend. Auch an der Effektivität dieser Operation, die Bin Ladens Organisation zerstören soll, darf man zweifeln. In Vietnam versuchte das US-Militär jahrelang das Hauptquartier des Vietcong ausfindig zu machen – ohne Erfolg.
Vielleicht täuscht die Bush-Regierung also nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch sich selbst. Hat sie wirklich ernsthaft geprüft, wie groß die Gefahr ist, mit dem Krieg in Afghanistan die Regime in Ägypten, Saudi-Arabien und Pakistan zum Einsturz zu bringen? Selbst wenn dies nicht passiert – hat sie bedacht, wie groß die Gefahr weiterer Anschläge gegen die USA ist? Eines fehlt in den siegesgewissen Ankündigungen der US-Regierung – eine ernsthafte Idee, was man eigentlich tun will, um die Bedingungen zu beseitigen, auf denen der islamische Terrorismus gedeiht.
Bleibt die Frage, welche moderaten Kräfte es gibt, ob die USA langfristig fähig sein werden, eine Alternative zu ihrem riskanten militärischen Vorgehen ins Auge zu fassen. Mäßigend wirken im Moment die US-Militärs. Ihre eigenen Möglichkeiten schätzen sie im Zweifel skeptisch ein, geopolitische Risiken haben sie stets im Blick. Viele von ihnen wissen aus eigener Erfahrung, was ein Gefecht ist. Alle wissen aus dem Studium der Militärgeschichte, dass nicht jeder Krieg mit einem napoleonischen Triumph endet, dass nicht nur Eisenhower und Grant, sondern auch Westmoreland und Taylor ihre Vorgänger waren (6).
Die Bush-Regierung scheint zudem zögerlich auf einen begrenzten Konfrontationskurs zu Israel zu gehen. Israel ist ein wichtiger militärischer Verbündeter, sein Geheimdienst ist wertvoll für die USA. Doch die Kosten der Allianz mit Israel wachsen. Bush und Powell scheinen wenig Lust zu verspüren, gerade jetzt die Beziehungen zu den islamischen Staaten aufs Spiel zu setzen, um rückhaltlos Scharons Politik zu stützen.
Die Konsequenz dieser Einschätzung ist offenkundig: Die USA müssten Israel energisch zu einer Einigung mit den Palästinensern drängen. Dazu bräuchte Bush freilich einen eisernen Willen. Die Demokraten, die mit der proisraelischen Lobby in den USA stärker verklammert sind, haben diese Konsequenz stets gescheut. Bewegung im Nahostkonflikt Richtung Frieden würde auch in den USA die eingerostete Politik reaktivieren und den schweigenden, liberal und international gesonnenen Teil der US-Öffentlichkeit wieder zum Leben erwecken.
In der Geschichte der USA haben sich ruhige, vom Konsens geprägte Perioden stets mit Phasen abgewechselt, in denen soziale Bewegungen heftig wuchsen. Diese Geschichte ist nicht zu Ende. Gewiss geben nicht erst seit dem 11. September die Rechten den Ton an, fundamentalistische Protestanten, Antiumweltbewegungslobbyisten und Kräfte, die gegen die Bürgerrechtsbewegung und Frauenrechte gerichtet sind. Doch es existiert auch eine Gegenbewegung: eine bunte Mischung aus Anhängern eines neuen „New Deal“, Gewerkschaftern, Menschenrechtsgruppen, Nichtregierungsorganisationen und Kirchenvertretern, die rasch und eindeutig vor einer Dämonisierung des Islams warnten und den Dialog der Glaubensgemeinschaften forcierten.
Als die so genannte Antiglobalisierungsbewegung, das „Volk von Seattle“, die Bühne betrat, war immerhin radikale Kritik am US-Kapitalismus zu hören – und zwar so laut, dass es unmöglich war, sie zu einer bloß exzentrischen Absurdität zu erklären. Außerdem ist es schwer vorstellbar, dass jene 80 Kongressabgeordneten und etwa 20 Senatoren, die sich in der reformorientierten Tradition der linken Demokraten sehen, für immer verstummt sind.
Die Nation steht noch immer unter Schock. In ein paar Monaten mag das anders sein – zumal, wenn der Krieg in Afghanistan wenig Erfolge zeitigt. Das „Volk von Seattle“ und die Reformkoalition sind derzeit unsichtbar. Verschwunden sind sie nicht.
Aus dem Amerikanischen von Stefan Reinecke
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