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Die andere Philharmonie

Gegenwelt aus Stahlbeton: Im Neuen Tempodrom soll sich der linke Mythos mit einer kommerziellen Zukunft versöhnen

von ROLF LAUTENSCHLÄGER

Vom alten Standort am Potsdamer Platz zum neuen hinter der Ruine am Anhalter Bahnhof sind es nur ein paar hundert Meter. Den Zirkus an der Mauer und das Neue Tempodrom dagegen trennen Welten. „Beton oder gar nichts“, lautet das Motto von Berlins wohl berühmtester Krankenschwester, Irene Moessinger, die dem früheren Zirkuszelt für die Szene und die Subkultur keine Träne nachweint. „Die Zeit der Zelte ist vorbei“, der Charme des alternativen Veranstaltungsortes, zu dem die Berliner mit ihren Freunden aus dem Westen der Republik strömten, ist Geschichte. Wenn heute zur Eröffnung des Neuen Tempodroms unter dem 37 Meter hohen zeltförmigen Dach aus Stahl und Kunststoff doch ein paar Elefanten durch die asphaltierte Arena trotten und ihren Duft versprühen wie einst 1980 am Potsdamer Platz, ist das nicht viel mehr als eine Hommage an die untergegangene Welt der Clowns, der lustigen Musik und Artisten. Man feiert den Abschied, aber noch mehr den Neubeginn.

Die Legenden über das Tempodrom, einige nennen es Geschichten aus dem linken Mythenschatz, werden darum einmal mehr bemüht werden. Denn sie erzählen sich so schön: Von Irene Moessinger, die 1973 rund eine Million Mark von ihrem fast unbekannten Vater erbte und sich nach der Krankenschwesterausbildung 1980 das Zirkuszelt kaufte. Von den Abenden im Tiergarten, wo man nach den Konzerten von Bob Dylan und Theateraufführungen der englischen Scarlatti-Supertruppe auf den Holzbänken neben den Zirkuswagen saß, Bier trank und Ökoschnitten verdrückte. Und von den Aktionen „Die spinnen, die Bonner“, als das Tempodrom mit dem Charme der Anarchie gegen die Räumung durch das Kanzleramt mobil machte und alle kamen – Grüne, Rote und sogar Bürger wie du und ich, 200.000 Besucher aller Alters- und Berufsgruppen, die nach den ersten wilden Jahren am Potsdamer Platz ins Zelt kamen.

Wenn heute Moessinger den Neubau als „alternative Philharmonie“ bezeichnet, beschreibt sie nicht nur den Gegensatz, den das Zelt als experimenteller Veranstaltungsort und „international bekannter Kulturstandort“ in der Frontstadt (so der frühere Bürgermeister Diepgen) unter seinem Dach vereint. Sie entzaubert zugleich den Mythos, der das Tempodrom zur gesellschaftlichen und künstlerischen Gegenwelt in den 80er- und 90er-Jahren stilisierte. In den Zelten traten nicht nur Dylan, die schwarzen Instrumentenzauberer der „Heimatklänge“ oder Musiker zum Anti-Rassismus-Festival auf, sondern auch und immer wieder Ingird Caven, Nina Hagen, Daniel Barenboim und Didi Hallervorden, Künstler zur Aids-Gala, Opernchöre und Präsidenten deutscher Architektenverbände.

Zu befürchten ist, dass die Neue Tempodrom-Philharmonie ihr Attribut des „Auch-anders-Seins“ aus Lebenslust, Alternativkultur und dem berühmten Anteil Chaos bis zur Unkenntlichkeit verliert, will sich doch das 60 Millionen Mark teure Gebäude mit 4.000 Plätzen, Gastronomien, einem Spaßbad und einer zweiten kleinen Arena der Event-Konkurrenz in der Hauptstadt stellen. „Wir sind nicht mehr das alte Tempodrom“, hat Moessinger klargestellt und setzt auf den Mainstream. Die Vorboten der Spektakel-Ereignisse lassen sich im neuen Programm bereits erkennen: Tagungen, Bankette und Preisverleihungen, die Kommerzshow „Holiday on Ice“, April, Otto, BAP und die Puhdys. Fast froh ist man, noch die „Heimatklänge“, das „Maulhelden“-Kabarett-Festival oder Frauenrechtsveranstaltungen in der Hochglanzbroschüre zu finden. Die Zukunft der neuen Berliner Bühne für Veranstaltungen gleich welcher Couleur wird sich aber daran entscheiden, ob das Stahlbetonzelt „angenommen“ wird. Statt Heimeligkeit aus Zirkuswagen und Zeltplanen haben die Hamburger Architekten Gerkan, Marg & Partner unter der hohen holzverschalten Dachkonstruktion eine recht sprödes, sachlich-funktionales Rund geschaffen. Viel Sichtbeton an den Wänden und dunkler Asphalt für die Böden, aber auch Glas, Holz und höhlenartige Räume als Gegengewicht machen die Annäherung an den nüchternen Bau nicht leicht, der, aufgesockelt auf einer Plattform, die sommerlichen Besucher einmal in den dahinter liegenden Park weiterführen soll. „Kühlturm“ sollen manche Berliner das zeltförmige Dach bereits getauft haben. Vielleicht lässt es sich aufheizen.

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