: bernhard pötter über kinder Auch Arschlöcher haben Kinder
Traurig, aber wahr: Wenn man Nachwuchs aufzieht, wird man nicht unbedingt zu einem besseren Menschen
Das Vergehen war durchaus lässlich. Jonas und der andere kleine Junge knieten auf der S-Bahn-Bank und schauten zum Fenster heraus. Jedes Mal, wenn eine andere S-Bahn nah an uns vorbeisauste, sprangen die beiden kreischend auf und standen mit ihren Stiefeln auf den Polstern. „Jonas, lass das“, wollte ich gerade zum x-ten Mal sagen, da riss der Vater des anderen Kindes seinen Sohn am Arm vom Sitz und gab ihm eine Ohrfeige. „Benny, noch einmal und es gibt Dresche“, herrschte der Mann den Jungen an. Benny stand stramm. Was Dresche war, wusste er offenbar. „Kiek nicht so“, sagte die Mutter, die bisher unbeteiligt dabeigesessen hatte. „Du weißt ja, was dir blüht, wenn du nicht hörst.“
Jonas schaute mich an. Ich schaute Jonas an. Nächste Station mussten wir aussteigen. Als der Zug abgefahren war, sagte er: „Der Papa war aber doof.“ „Na ja“, meinte ich, „Kinder können aber auch ganz schön nerven. Manchmal verlieren Eltern dann die Geduld.“ Und ich dachte schuldbewusst an das Adrenalin, das meine Adern durchrauscht, wenn Jonas auch nach der sechzehnten Aufforderung nicht zum Händewaschen kommt. Oder wie laut wir mit den Zähnen knirschen, wenn der Sohn den ganzen Abend todmüde rumheult: „Ich will nicht schlafen.“
Insgeheim gab ich Jonas aber Recht. Auch mich hatte das große Schütteln vor Bennys Eltern befallen. Die Ohrfeige war gar nicht das Schlimmste. Wer mit Provokationsmaschinen unter einem Dach lebt, ist oft in der Gefahr, der Versuchung nachzugeben. Aber Bennys Eltern hatten dem Dreijährigen keine Chance gelassen. Mit ihrer körperlichen Überlegenheit hatten sie ihn einfach überfahren und ihm ihren Willen aufgezwungen. Ohne Nachsicht. Und ohne Vorsicht.
Seitdem fallen sie mir auf. Eltern, die mit ihren Kindern umgehen wie mit ihren Hunden, nur weniger liebevoll. Mütter, die ihren Nachwuchs wortlos an der Hand in den Bus zerren. Väter, die ihre Kids im Supermarkt zusammenbrüllen, weil die nach Überraschungseiern quengeln. Alle immer knapp vor der Grenze, wo man sich als Außenstehender einen Ruck gibt und einschreitet. Körperlich misshandelt werden diese Kinder nicht, soweit ich das sehe. Aber wie will ich das beurteilen? Und geht es mich was an?
„Ja“, sagt mein Vater. Aber das ist auch kein Wunder. Vierzig Jahre lang war er Sozialarbeiter im Bezirksamt Neukölln. Das ist so was wie die Bronx von Berlin. Kinder aus zerrütteten Familien holen und ins Heim bringen, so habe ich seinen Job immer meinen Freunden erklärt. Als Jugendlicher fand ich es furchtbar, wenn mein Vater davon erzählte, er habe der Familie Schnabulke das Sorgerecht für ihren Sohn vom Gericht aberkennen lassen. Inzwischen finde ich diese Art von Notbremse ganz in Ordnung.
„Viele Leute sind einfach total überfordert mit Kindern“, sagt Anna. Und viele Leute kriegen mit ein bisschen Hilfe auch die familiäre Kurve. Aber das ändert nichts an der grundlegenden Erkenntnis: Auch Arschlöcher haben Kinder. Die automatische Solidarität unter Eltern verdeckt vieles. Wir fahren nicht mit jedem Dummbeutel in den Urlaub. Wir arbeiten nicht mit jedem Idioten zusammen. Aber den Menschen neben uns im Sprechzimmer beim Kinderarzt fühlen wir uns merkwürdigerweise verbunden.
„Eltern sind eben auch keine besseren Menschen“, sagt Anna. „Vielleicht wollen wir gern glauben, dass die Geburt eines Kindes aus uns andere Wesen macht, aber so ist es nicht.“ Eltern lügen, Eltern betrügen. Eltern setzen Kinder als Waffen ein. Tucholsky würde sagen: Eltern sind Mörder.
Ein Kind wie Benny hat noch nicht verloren. Er wird von Anfang an um sein Leben kämpfen müssen. Doch das Versagen der Eltern ist unabhängig vom Geldbeutel. Auch der Nachwuchs der Reichen, Schönen und Berühmten leidet manchmal an seinen Erziehungsberechtigten. Möchten Sie als Sohn von Michael Jackson immer mit Mundschutz geküsst werden? Oder wie Madonnas Kinder das Leben auf der Flucht vor Paparazzi verbringen? Auch die Nachfahren von Prinz Charles (wer wird König?), Liz Hurley (wer ist der Vater?) oder Jenny Elvers (wer nicht?) werden ihr schweres Schicksal noch verfluchen.
Das Vatersein stellt mich nicht auf eine Stufe mit Michael Jackson oder Prinz Charles. Zum Glück. Es gibt Freunde, die Eltern sind, und Eltern, die Freunde geworden sind. Das muss reichen. Denn mit den meisten Erziehungsberechtigten verbindet mich so viel wie mit anderen Radfahrern, Milchtrinkern und Brillenträgern. Wir können Kleider und Spielzeug tauschen, gemeinsam Hunde vom Spielplatz scheuchen und bei wütenden Spardemos Politiker mit benutzten Windeln bewerfen. Aber Eltern sind erst einmal Leidensgenossen. Mit ihnen bildet man strategische Allianzen. Für ihre Dummheit bin ich nicht verantwortlich. Ich gehöre nur zufällig zu dieser Gruppe. Das rede ich mir jedenfalls ein.
Fragen zu Kindern?kolumne@taz.de
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