: Karlsruhe verweigert letztes Wort
Bundesverfassungsgericht gibt dem Gesetzgeber bei der Entscheidung über die Wehrpflicht freie Hand. Rechte der Wehrdienstleistenden nicht relevant
von CHRISTIAN RATH
Dass Karlsruhe die Wehrpflicht nicht eigenhändig aussetzen würde, war schon lange klar. Immerhin hat das Gericht auf eine mündliche Verhandlung verzichtet und konnte deshalb auch keine Diskussion mit militärischen und politischen Sachverständigen führen. Überraschend ist nun aber, dass das Verfassungsgericht der Politik nicht einmal Maßstäbe mit auf den Weg gibt. Verneint wird sogar der einzige Maßstab, der sonst im gesamten Staatsleben gilt, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Damit erklärt Karlsruhe die Freiheitsrechte der Wehrpflichtigen an diesem Punkt für rechtlich nicht relevant.
Ausgelöst wurde das Verfahren durch einen Vorlagebeschluss des Landgerichts Potsdam. Dort war der Totalverweigerer Volker Wiedersberg (siehe taz von gestern) wegen Dienstflucht angeklagt. Die Potsdamer Richter kamen 1999 jedoch zu der Auffassung, dass Wiedersberg nur verurteilt werden kann, wenn die Wehrpflicht „unter den heutigen Bedingungen“ noch verfassungsgemäß ist. Das Landgericht hat diese Frage verneint. In Deutschland bestehe nämlich spätestens seit dem Abzug der letzten russischen Truppen im August 1994 ein Konsens darüber, dass das Land keiner „existenzgefährdenden Bedrohung“ mehr ausgesetzt ist. Damit aber sei die Wehrpflicht zu einem „unverhältnismäßigen Eingriff“ in die Grundrechte der Wehrpflichtigen geworden.
Da ein Landgericht aber nicht einfach die Wehrpflicht für verfassungswidrig erklären kann, musste es Karlsruhe um eine Entscheidung bitten. Diese liegt nun vor und sieht ganz anders aus, als sich Volker Wiedersberg und die Potsdamer Richter erhofft hatten. Aus mehreren Gründen sei die Richtervorlage „unzulässig“, heißt es im Beschluss des Zweiten Senats, der noch unter Vorsitz der gestern ausgeschiedenen Jutta Limbach tagte.
Erstens habe das Landgericht nicht dargelegt, warum die Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht für das Potsdamer Strafverfahren überhaupt „entscheidungserheblich“ ist. Schließlich komme es für Wiedersbergs Verurteilung auf den Zeitpunkt seiner geplanten Einberufung an und die war für den 1. September 1993 vorgesehen. Dass die Wehrpflicht bereits zum damaligen Zeitpunkt verfassungswidrig war, habe das Landgericht nicht ausgeführt, so der Vorwurf aus Karlsruhe.
Zweitens kritisiert das Verfassungsgericht aber auch den von den Potsdamer Richtern gewählten Maßstab. Bei der Frage, ob die Bundeswehr als Wehrpflicht- oder als Freiwilligenarmee gestaltet werde, komme es nicht allein auf die Sicherheitslage an. Vielmehr müssten auch Bündnisverpflichtungen – gemeint sind vermutlich Kriseninterventionen im Rahmen der Nato – berücksichtigt werden. Außerdem könnten auch die demokratische Kontrolle, Kostenargumente und die Möglichkeit zur Rekrutierung qualifizierten Nachwuchses relevant werden. Das die Bürger schützende Verhältnismäßigkeitsprinzip spielt hier nach Auffassung des Verfassungsgerichts dagegen keine Rolle, schließlich sei die Wehrpflicht „verfassungsrechtlich verankert“.
So hatte das Gericht auch schon im Jahr 1960 argumentiert. Zwischenzeitlich hatte Karlsruhe allerdings auch klargestellt, dass das Grundgesetz keine Pflicht zur Einführung der Wehrpflicht kenne, vielmehr könne sich der Bundestag „unbedenklich“ auch für eine Freiwilligenarmee entscheiden. Bei dieser Entscheidung hat der Gesetzgeber nach Karlsruher Auffassung nun aber völlig freie Hand. Er muss also unter den geeigneten Möglichkeiten nicht den für die potenziell Wehrpflichtigen mildesten Weg wählen.
Damit stellte sich der Zweite Senat in doppelter Hinsicht gegen die Rechtsauffassung von Altbundespräsident Roman Herzog. Dieser hatte 1995 vor der Kommandeurstagung der Bundeswehr erklärt: „Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Einschnitt in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn ihn die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet.“ Herzog betonte damit sowohl das Verhältnismäßigkeitsprinzip als auch die Maßgeblichkeit von sicherheitspolitischen Aspekten. Die juristische Auseinandersetzung um die Wehrpflicht ist mit dem Urteil aber noch nicht zu Ende: Nächste Woche wird vor dem Europäischen Gerichtshof darüber verhandelt, ob die Beschränkung der Wehrpflicht auf Männer gegen Europarecht verstößt.
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