vorlesungskritik Ein Überblick über die germanischen Sprachen: Wir sind eine Familie
Sommersemesteranfang an der Freien Universität: Dahlem blüht auf, frisches Grün, betörende Düfte und überall Studentinnen und Studenten – wie jedes Jahr werden sie jünger. Sie besetzen Mensen, Dachterrassen, Cafeterien und füllen Hörsaal um Hörsaal, Seminarraum um Seminarraum. So auch im Institut der Anglistik in der Gosslerstraße. Der größte Raum ist vollbesetzt, vor den Türen weitere Zuhörer.
Auf dem Programm: The Germanic Languages. Die Stimmung ist bedingt gespannt, denn bereits die Zweitsemester wissen: Die erste Woche ist gemeinhin undankbar, es gibt einen Überblick über das Vorlesungsprogramm, allgemeine Informationen, ein ständiges Kommen und Gehen und in der zweiten Woche sitzen ganz andere im Saal und alles wird noch einmal wiederholt. Doch dann gibt es ab und an Einführungen, die einen geradezu berauschen. Der Blick wird auf ein neues Wissensgebiet gelenkt, schillernd und blinkend liegt es da, gekonnt reduziert, unendlich interessant und mit Fleiß durchaus zu bewältigen.
Einen solchen Überblick bietet Professor Dr. Ekkehard König, ein freundlicher, weißhaariger Herr, leger gekleidet, auf Englisch mit einem charmanten Hannoveraner Akzent. Mit einem Westside-Story-Zitat – everything is free for a little fee – wird uns der Obolus für die Handouts versüßt. Wir geben gern für eine Übersicht über die germanischen Sprachen, dieser angesichts der Vielfalt von zirka 6.000 Sprachen so verschwindend kleinen Gruppe, die aber immerhin den Global Player Englisch, die Muttersprache Deutsch ebenso umfasst wie Färöisch und Jiddisch.
Die enge Verwandtschaft der europäischen Sprachen insgesamt wurde im 19. Jahrhundert entdeckt – ganz Europa von Russisch bis Gälisch, Isländisch bis Albanisch eine einzige Familie, wenn man einmal von einem Kuckucksei wie dem Baskischen und den finnisch-ugrischen Steppenkindern absieht. Und nicht nur das: Vettern und Basen bis Afghanistan und Nordindien – ausschließlich aus linguistischer Sicht stehen europäische Soldaten nicht ohne Grund am Hindukusch.
Am Anfang war wohl eine Ursprache, die sich durch Wanderungen ihrer Sprecher immer weiter differenzierte. Vor 2.500 Jahren trennten sich die Germanen mit der 1. Lautverschiebung vom Rest und stellten sich unter Grimm’s law: Ein p war ihnen nunmehr ein f, ein k ein ch, das t wurde ihm zu etwas th-Ähnlichem. Suchen Sie sich Wörter, die Entsprechungen in den verschiedenen Sprachen haben und Sie werden sehen: pesce zu Fisch, pater zu Vater … Faszinierend. Virtuos nennt König Beispiele aus den verschiedensten Sprachen.
Jede germanische Sprache wird in einer Sitzung vorgestellt und, wenn möglich, mit einem Muttersprachler präsentiert. Anhand sprachhistorischer und aktueller Betrachtungen werden die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und besonderen Beziehungen der Sprachen untereinander dargestellt. So akademisch das alles wirkt: Wie schnell daraus Politik werden kann, macht König an der Frage: Eigene Sprache oder Dialekt? deutlich. Linguistisch gebe es hier keine klaren Kriterien. Grammar + Army + Navy = eigene Sprache? Die nicht ganz ernst gemeinte Definition verweise auf die Rolle der politischen Identität, die hierbei ins Spiel komme.
Ziel der Vorlesung sei es, so König, Verständnis für mehr Sprachen zu wecken. Am Ende sollten wir alle in der Lage sein, einen kurzen Text in all den Sprachen zu verstehen oder doch zumindest zu dem Schluss gekommen sein, dass die Kenntnis zweier Sprachen nicht genug ist. Letzteres hat er schon erreicht: Bis in die Zungenspitze motiviert, möchte man sogleich ins Sprachlabor stürzen. Isländisch oder lieber Niederländisch? Europa, wir kommen. CARSTEN WÜRMANN
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