: Der Hass auf den Westen
Terroranschläge brachten am 11. September in New York die Twin Towers zum Einsturz. Mehr als dreitausend Menschen starben in den Trümmern. Nicht nur Bewohner islamischer Länder verspürten eine klammheimliche Freude über den Anschlag. Was aber bejubelten sie und weshalb taten sie es? Eine Analyse dessen, was die mörderische Kraft von Religion erst möglich macht
von IAN BURUMA und AVISHAI MARGALIT
Im Jahre 1942, nicht lange nach dem Angriff auf Pearl Harbor, kam in Kioto eine Gruppe ultranationalistischer japanischer Philosophen zusammen, um über Japans Rolle in der Welt zu sprechen. Die Versammlung verfolgte das Projekt einer „Überwindung der modernen Zivilisation“, wie man sich ausdrückte.
Da moderne Zivilisation gleichbedeutend war mit westlicher Zivilisation, hätte sich die Konferenz auch „Überwindung des Westens“ nennen können. In einer radikalen Abkehr von dem im 19. Jahrhundert formulierten Ziel, „Asien hinter sich zu lassen und sich dem Westen anzuschließen“, führte Japan nun einen „heiligen Krieg“, in dem Asien vom Westen befreit und sein Geist von westlichen Ideen gereinigt werden sollte.
Ein mystisches Gemisch aus ethnischem Nationalismus, der sich aus deutschen Quellen speiste, und einem Abstammungsdenken, das sich auf Zen und Schintoismus berief, war das Reinigungsmittel. Die Japaner waren eine „weltgeschichtliche Rasse“ von göttlicher Abstammung, deren göttliche Aufgabe es war, ganz Asien in ein neues Zeitalter der Großen Harmonie zu führen – und so weiter.
Was aber war „der Westen“, von dem man sich reinigen wollte? Was musste „überwunden“ werden? Die Frage gewinnt heute wieder an Bedeutung, denn zentrale Charakteristika dieses westlichen Feindes hätten einem Ussama Bin Laden und anderen islamistischen Extremisten durchaus vertraut geklungen. Es sind dies (in loser Reihenfolge): Materialismus, Liberalismus, Kapitalismus, Individualismus, Humanismus, Rationalismus, Sozialismus, Dekadenz und laxe Moralvorstellungen.
Diese Übel sollten durch eine Demonstration japanischer Stärke überwunden werden, und damit war nicht nur militärische Stärke gemeint, sondern Stärke des Willens, des Geistes, der Seele. Die Schlüsselqualitäten des japanischen oder „asiatischen“ Geistes waren Selbstopfer, Disziplin, Härte, Unterwerfung des Individuums unter das kollektive Gute, Verehrung göttlicher Führerschaft und der tiefe Glaube an die Überlegenheit der Instinkte über die Vernunft.
Natürlich ging es in Japans Krieg gegen den Westen noch um mehr, aber so wurde die japanische Kriegspropaganda philosophisch untermauert. Das zentrale Dokument des japanischen Anspruchs auf nationale Göttlichkeit trug den Titel „Hauptprinzipien der nationalen Politik“.
In diesem 1937 vom Erziehungsministerium herausgegebenen Dokument wurde der Anspruch erhoben, die Japaner seien „wesensmäßig völlig verschieden von den so genannten Bürgern westlicher Nationen“, weil ihre Abstammungslinie des göttlichen kaiserlichen Blutes niemals unterbrochen worden sei und „weil wir im Kaiser stets die Quelle unseres Lebens und Handelns suchen“. Der japanische Geist ist „rein“ und „makellos“, der Einfluss der westlichen Kultur dagegen trübt den Geist und verdirbt die Seele.
Dieses Denken geht auch auf westliche Ideen zurück, vor allem auf Gedankengut aus Deutschland. Ein berühmter Gelehrter des rechten Flügels, Uesugi Shinkichi, der zunächst Christ war, studierte im wilhelminischen Deutschland Staatswissenschaft und schrieb, als er 1919 in seine Heimat zurückkehrte: „Untertanen kennen nur Geist und Willen des Kaisers. Ihr individuelles Selbst geht im Kaiser auf. Wenn sie im Geist des Kaisers handeln, können sie ihre wahre Natur verwirklichen und das moralische Ideal erreichen.“ Das ist der Stoff, aus dem man heilige Krieger macht.
Deutsche Nationalsozialisten und andere europäische Faschisten bedienten sich einer ganz ähnlichen Sprache – allerdings ohne die neoschintoistischen Anklänge. Auch sie kämpften gegen all die „seelenlosen“ Eigenschaften, die man gemeinhin mit liberalen Gesellschaften verbindet. Bereits eines der ersten kritischen Bücher über das Denken der Nazis – es stammt von Aurel Kolnai, einem ungarischen Flüchtling – trägt den Titel „The War Against the West“ („Der Krieg gegen den Westen“, 1938).
Naziideologen und japanische Militärpropagandisten kämpften gegen dieselben westlichen Ideen. Der Westen, auf den ihr Hass sich richtete, war etwas Multinationales und Multikulturelles, aber die zentralen Symbole des Hasses waren das republikanische Frankreich, das kapitalistische Amerika, das liberale England und – in Deutschland mehr als in Japan – die wurzellosen kosmopolitischen Juden.
Die japanische Propaganda nahm vor allem das „angloamerikanische Ungeheuer“ ins Visier, wie es durch Karikaturen von US-Präsident Roosevelt und vom britischen Premier Churchill mit plutokratischen Zylinderhüten dargestellt wurde. Für die Nazis repräsentierte „der ewige Jude“ alles, was sie am Liberalismus verabscheuten.
Der Krieg gegen den Westen ist zum Teil ein Krieg gegen eine bestimmte Auffassung von gesellschaftlichem Zusammenleben und von politischer Gemeinschaft. Jahrzehnte vor Hitler hat Houston Stewart Chamberlain, der geistige Pate des Nazismus, Frankreich, England und Amerika als hoffnungslos „verjudete“ Länder bezeichnet. In diesen Ländern war Staatsbürgerschaft zu einem „rein politischen Begriff“ verkommen. In England, so formulierte Chamberlain, könnte jeder „Basutoneger“ einen Pass bekommen. Später, in seinem Buch „In England und Deutschland“ (1915), beklagte er, dass das Land „gänzlich in die Hände von Juden und Amerikanern gefallen“ sei.
Nach Ansicht Chamberlains – und seines Freundes Kaiser Wilhelm II. – war Deutschland die einzige Nation, die noch genug nationalen Geist und rassische Solidarität besaß, um den Westen vor dem Untergang in einem Meer der Dekadenz und Entartung zu retten. Chamberlains „Westen“ war nicht auf Staatsbürgerschaft, sondern auf Blut und Boden gegründet.
Oswald Spengler warnte in seiner Schrift „Jahre der Entscheidung“ ausgerechnet 1933 vor der Hauptbedrohung des Abendlandes durch die „farbigen Völker“. Er sagte, nicht ganz ohne Grund, gewaltige Aufstände der zornigen Völker in den europäischen Kolonien voraus. Er behauptete auch, die Russen seien nach 1918 wieder „asiatisch“ geworden und die japanische Gelbe Gefahr sei im Begriff, die zivilisierte Welt zu verschlingen.
Interessanter als das war Spenglers Ansicht, die weißen „Herrenvölker“ seien im Begriff, ihre Stellung innerhalb Europas zu verlieren. Bald, so Spengler, würde Frankreich, das bereits mit schwarzen Soldaten, polnischen Geschäftsleuten und spanischen Bauern überschwemmt sei, nicht mehr von echten Franzosen regiert werden. Der Westen werde untergehen, weil die Weißen weichlich, dekadent, sicherheitssüchtig und bequem geworden seien. In seinen Worten: „Jazzmusik und Niggertänze zelebrieren den Totenmarsch einer großen Kultur.“
Die halbgaren Ideen, die die Kritik am Westen beeinflussten, kamen aus Deutschland, aber auch positivere Einstellungen gegenüber dem Westen standen unter dem Einfluss deutschen Gedankenguts. Die Slawophilen und die Westler, die im Russland des 19. Jahrhunderts gegensätzliche Ansichten über den Westen vertraten, waren gleichermaßen von deutschen Denkströmungen inspiriert.
Tatsächlich findet sich pro- und antiwestliches Denken überall. Der Osten fängt nicht an der Elbe an, wie Konrad Adenauer glaubte, noch beginnt der Westen in Prag, wie Milan Kundera einmal meinte. Osten und Westen sind nicht unbedingt geografische Gebiete. „Okzidentalismus“ ist ein Bündel von Bildern und Vorstellungen vom Westen in den Köpfen seiner Feinde.
Auch bei den Anschlägen des 11. September war Okzidentalismus im Spiel. Der Begriff „Okzidentalismus“ ist für uns eine sarkastische Analogiebildung zu Edward Saids Konzept des „Orientalismus“, worunter dieser einflussreiche Autor in seinem Buch „Orientalismus“ (1978 im englischen Original, auf Deutsch zuletzt 1994 erschienen) die systematisch feindselige Verkennung des Orients durch den Okzident verstanden wissen will.
Okzidentalismus besteht in seinen unterschiedlichen Versionen meist aus vier Elementen: der Stadt, dem Bürgerlichen, der Vernunft und der Gleichberechtigung der Frau. Jeder dieser Punkte beinhaltet eine Reihe von Attributen – wie etwa Überheblichkeit, Schwäche, Gier, Verdorbenheit und Dekadenz –, die als typisch westliche oder sogar amerikanische Eigenschaften ins Feld geführt werden. Was Okzidentalisten am Westen hassen und was den Hass auf die USA schürt, ist nicht immer ganz dasselbe. Die beiden Themenbereiche sollten nicht vermengt werden. Ein Freund fragte einmal erstaunt: „Warum hasst er mich denn? Ich habe ihm nicht mal geholfen.“
Manche hassen die USA, weil die USA sie unterstützt haben, und andere, weil sie sie nicht unterstützt haben. Manche nehmen es den USA übel, wie sie ihren eigenen verhassten Regierungen geholfen haben, an die Macht zu kommen oder an der Macht zu bleiben.
Für manche ist die bloße Existenz der USA eine Demütigung, andere fühlen sich durch die US-amerikanische Außenpolitik gedemütigt. Bei einigen Linken ist der Hass auf die USA alles, was von ihrem Linkssein übrig geblieben ist; Antiamerikanismus ist Teil ihrer Identität. Dasselbe gilt auf dem rechten Flügel für Kultur-Gaullisten. Antiamerikanismus ist eine Angelegenheit von hoher politischer Bedeutung, er hängt mit Okzidentalismus zusammen, ist aber nicht dasselbe.
Aufstände gegen den Liberalismus sind fast immer mit einem tiefen Hass auf die Stadt verbunden, mit einem Hass auf alles, was zur urbanen Zivilisation gehört: Kommerz, Menschen verschiedener Herkunft, Freiheit der Kunst, sexuelle Freizügigkeit, wissenschaftliche Bestrebungen, Freizeit, persönliche Sicherheit, Wohlstand und die Macht, die damit gewöhnlich einhergeht. Mao Tse-tung, Pol Pot, Hitler, japanische Agrarfaschisten und natürlich Islamisten haben allesamt das einfache Leben des biederen Bauern gepriesen, der da rein im Herzen ist, nicht durch die Vergnügungen der Stadt verdorben, an harte Arbeit und Selbstverleugnung gewöhnt, erdverbunden und obrigkeitshörig. Hinter dem Idyll ländlicher Einfachheit steht das Begehren, große Menschenmassen zu lenken, aber auch ein alter religiöser Eifer, mindestens so alt wie Babylon, die Großmacht der Antike.
Die Heiligen dreier monotheistischer Religionen – des Christentums, des Judentums und des Islam – haben Babylon angeprangert als den sündigen Stadtstaat, der mit seiner Politik, seiner Militärmacht und seiner ganzen urbanen Zivilisation eine anmaßende Herausforderung Gottes darstellte. Der legendäre Turm von Babel war ein Symbol der Überhebung und des Götzendienstes: „Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reiche; damit wir uns einen Namen machen“ (Genesis 11,4). Und Gott betrachtete es tatsächlich als eine Herausforderung seiner Größe: „Nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.“ Das heißt, die Bürger dieser Stadt-Großmacht werden ihre Fantasien ausleben, um wie Gott zu werden. „Er liebt die Hochmütigen nicht“, sagt uns der Koran (Sure 16, Vers 23), und fährt fort: „Da ging Gott ihren Bau an den Grundmauern an, und die Decke über ihnen stürzte auf sie herab. Und die Strafe kam über sie, während sie nichts Böses ahnten.“
Schon der Prophet Jesaja sagte „Gottes Gericht“ über Babel voraus: „Das schönste unter den Königreichen“ werde wie „Sodom und Gomorrha“ enden (Jesaja 13,19) und der Hochmütige werde gestürzt werden, auf dass „auch Araber dort keine Zelte aufschlagen noch Hirten ihre Herden lagern lassen“. Und die Offenbarung des Johannes (17,5) sagt über die große Babylon, „die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden“: „Sie ist gefallen, sie ist gefallen.“
Ein Sujet, das man in Filmen aus armen Ländern immer wieder zu sehen bekommt, ist der Jugendliche aus einem Dorf, der in die große Stadt geht, entweder durch die Umstände genötigt oder weil er auf ein neues, besseres und freieres Leben aus ist. Die Dinge gehen bald schief. Der junge Mann (oder die junge Frau) ist isoliert, gerät auf Abwege und landet schließlich in Armut, Kriminalität oder Prostitution.
Die Geschichte endet dann meist mit einer gewalttätigen Geste der Rache und einem Versuch, die Säulen der überheblichen, gleichgültigen, fremden Stadt zum Einsturz zu bringen. Parallelen zu dieser Geschichte gibt es in der Biografie Hitlers, Pol Pots und Maos – man denke an ihre Jahre in Wien, Paris, Peking – oder bei vielen jungen Muslimen in Kairo, Haifa, Manchester oder Hamburg.
In der Welt, in der wir leben, muss man nicht einmal in die Stadt gehen, um permanent ihre Präsenz zu spüren – durch Werbung, Fernsehen, Popmusik und Videos. Die moderne Stadt, Verkörperung all der funkelnden Dinge, die für uns unerreichbar sind, der ganze Hochmut und liederliche Lebenswandel des Westens haben ihre Ikone in der Skyline Manhattans gefunden, wie sie in der ganzen Welt millionenfach auf Postern, Fotografien und Bildern abgebildet ist.
Man kann ihr nicht entkommen. Man findet sie auf staubigen Musikautomaten in Burma, in Diskotheken in Urumtschi, in Studentenwohnheimen in Addis Abeba. Sie erregt Sehnsucht, Neid und manchmal blinde Wut. Die Taliban versuchen – ganz wie die über „Niggertänze“ entsetzten Naziprovinzler, wie Pol Pot, wie Mao –, eine Welt der Reinheit zu schaffen, in der sie vor Visionen von Babylon sicher wären.
Natürlich haben die Taliban so gut wie keine Ahnung, wie die Fleischtöpfe des Westens wirklich sind. Für sie war schon Kabul ein Sündenpfuhl: Mädchen durften die Schule besuchen und Frauen tummelten sich ohne Gesichtsverhüllung in der Öffentlichkeit. Aber wie alle Puristen machen sich die Taliban auch große Sorgen um die Privatsphäre.
In der Anonymität großer Städte führt die Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten zu Heuchelei. In okzidentalistischen Augen bietet der von Stadtmenschen bevölkerte Westen ein Bild der Künstlichkeit und scheinheiligen Heuchelei, im Gegensatz zu der Ehrlichkeit und Reinheit des Lebens, das ein beduinischer Hirte führt. Riad und seine prächtigen arabischen Paläste sind der Inbegriff der Heuchelei.
Die Menschen dort verhalten sich in der Öffentlichkeit wie puritanische Wahhabiten – und zu Hause wie gierige Westler. Für einen islamischen Radikalen trägt die scheinheilige Stadt den Westen in sich wie einen Wurm, der den Apfel von innen faulen lässt.
Die großen Städte sind meist auch große Marktplätze. Für Voltaire konkretisierte sich ein Großteil dessen, was er an England bewunderte, in der Londoner Börse: „Da handeln der Jude, der Mohammedaner und der Christ einer mit dem anderen, als bekennten sie sich alle zu derselben Religion, und nur die Bankrotteure werden als Ungläubige bezeichnet“ („Briefe aus England“, 6. Brief).
Wer das, wofür Voltaire Hochachtung empfand, hasst und den Marktplatz als Quelle von Gier, Selbstsucht und fremdländischer Verdorbenheit betrachtet, hasst auch diejenigen, denen der Markt vermeintlich am meisten zugute kommt: die Immigranten und Minderheiten, die ihre Geschicke durch Handel nur verbessern können. Wenn es darum geht, wieder Reinheit herzustellen und die heimatliche Erde von fremden Elementen zu befreien, sind das die Menschen, die man loswerden muss: die Chinesen in Pol Pots Phnom Penh, die Inder in Rangun oder Kampala und die Juden überall.
Manchmal können sich solche Verunreinigungen auf ganze Nationen oder sogar auf Großmächte erstrecken. In ihrem proklamierten Bestreben, dem Osten die echten asiatischen Werte zurückzubringen, versprachen die japanischen Kriegsherren, die weißen Imperialisten hinauszuwerfen, um so „den uneingeschränkten marktwirtschaftlichen Wettbewerb zu überwinden“. Ganz gleich, was Israel tut, es wird der fremde Sand in den Augen muslimischer Puristen sein.
Und die USA werden für ihre Feinde immer etwas Unerträgliches bleiben. Bin Laden spricht von einer unheilvollen „Allianz des von den USA und Israel angeführten jüdischen Kreuzzugs“. Der Hass ist bedingungslos. 1998 sagte er in einem Interview mit dem arabischen Fernsehsender Al Dschasira: „Jeder erwachsene Muslim hasst Amerikaner, Juden und Christen. Es ist unser Glaube und unsere Religion. Seit meiner Kindheit war ich im Krieg mit den Amerikanern und habe Hass gegen sie gehegt.“ Die Racheengel vom September haben ihr Ziel sorgfältig gewählt. Da die Skyline von Manhattan eine Provokation darstellt, mussten seine babylonischen Türme einstürzen.
Was hat Hitler eigentlich mit „jüdischer Wissenschaft“ gemeint? Und wie erklärt sich der tiefe Abscheu christlicher Fundamentalisten vor dem Evolutionstheoretiker Charles Darwin? Nazipropagandisten haben behauptet, zu wissenschaftlicher Wahrheit gelange man nicht durch dergleichen „jüdische“ Methoden wie empirische Forschung oder Hypothesenbildung und experimentelle Überprüfung.
Naturwissenschaft müsse „geistig“, im natürlichen Geist des „Volkes“ verwurzelt sein. Juden, so wurde behauptet, haben nur durch die Vernunft Zugang zur natürlichen Welt, wahre Deutsche dagegen erlangen eine höhere Erkenntnis durch ihren schöpferischen Instinkt und durch Liebe zur Natur.
Mao Tse-tung prägte den Slogan: „Wissenschaft heißt einfach, gewagt zu handeln.“ In den Fünfzigerjahren eliminierte er ausgebildete Wissenschaftler und animierte fanatische Anhänger der Partei zu wahnwitzigen Wissenschaftsexperimenten, die durch die gleichermaßen abstrusen Versuche von Stalins Pseudowissenschaftler Trofim Denissowitsch Lyssenko angeregt waren. „Es ist nichts dabei“, so Mao, „Nuklearreaktoren, Zyklotrone oder Raketen zu bauen … Ihr braucht nur Geistesstärke, um euch jedem überlegen zu fühlen, als ob es niemanden sonst gäbe.“
Das ganze ressentimentgeladene Unterlegenheitsgefühl, das Mao und seine Parteigenossen aus der Provinz gegenüber Leuten mit höherer Bildung empfanden, ist in diesen Worten enthalten. Instinkt, Geistesstärke, Opferbereitschaft … 1942 behauptete ein japanischer Universitätsprofessor, ein japanischer Sieg über den angloamerikanischen Materialismus sei sicher, weil Japan die „spirituelle Kultur“ des Ostens verkörpere. Wie jene babylonischen Türme von New York wird die „jüdische“ Vorstellung, Wissenschaft sei international und die menschliche Vernunft, unabhängig von der Abstammung, das beste Instrument wissenschaftlicher Forschung, von Feinden der liberalen urbanen Zivilisation als eine Form von Hybris betrachtet.
Wissenschaft muss, wie alles andere, von einem höheren Ideal erfüllt sein: dem deutschen Volk, Gott, Allah oder was auch immer. Aber es könnte noch etwas anderes dahinter stecken, was weitaus naiver und primitiver ist. Wer Stammesgötter oder gar universelle Götter anbetet – wie es auch Christen, Muslime und orthodoxe Juden tun –, neigt manchmal zu dem Glauben, Ungläubige seien seelisch verdorben oder hätten keine Seele (nicht umsonst sprechen christliche Missionare von Seelenrettung). In extremen Fällen lässt sich daraus die Berechtigung ableiten, Ungläubige ungestraft zu töten.
Die Seele ist ein Leitmotiv des Okzidentalismus. Im 19. Jahrhundert haben die Slawophilen die „große“ russische Seele gegen den mechanischen, seelenlosen Westen ins Feld geführt. Sie nahmen das tiefe Empfinden und das profunde Verstehen des Leids für sich in Anspruch. Westler waren dagegen zu mechanischer Effizienz verurteilt und verfügten nur über einen unheimlichen Sinn für Nützlichkeit und Kalkül.
Wer sich für die Seele stark macht, dem ist der skeptische Intellekt immer verdächtig. Okzidentalisten glorifizieren die Seele oder den Geist und verachten Intellektuelle und das intellektuelle Leben. In ihren Augen ist das Leben des Intellekts fragmentiert, eine höhere Form von Idiotie ohne ein Empfinden für die „Ganzheit“, ohne Sinn für das „Absolute“ und für das, was wirklich wichtig im Leben ist.
Der Glaube, dass die „anderen“ nicht dieselben Empfindungen wie wir haben, ist wohl bei allen Völkern verbreitet. Eine seiner Varianten ist die Ansicht, dass das Leben im Orient wenig wert ist oder dass Kulis keinen Schmerz empfinden oder aber dass die Menschen im Westen trocken, rational, kalt sind und keine warmen menschlichen Gefühle kennen – eine Ansicht, die wir in China, Indien, Japan und Ägypten viele Male gehört haben. Das zeugt natürlich von Beschränktheit und Ignoranz, aber darin spiegelt sich auch ein Ordnungsschema.
Im aufgeklärten anglo-franko-jüdisch-amerikanischen Westen hat man ein anderes Selbstbild: Man wird von säkularen politischen Institutionen regiert und das Verhalten der Bürger ist an weltliche Gesetze gebunden. Religiöser Glaube und andere geistige Dinge sind Privatangelegenheit.
Es ist nicht so, dass unsere Politik keinerlei Bezug zu gemeinsamen Werten oder moralischen Annahmen hätte, und einige unserer führenden Politiker sähen es gern, wenn das öffentliche Leben stärker von Religion geprägt wäre; aber noch wird der Westen nicht von geistlichen Führern regiert, die als Mittler zwischen uns und der göttlichen Ordnung droben auftreten. Unsere Gesetze entstammen nicht göttlicher Offenbarung, sondern sind von Juristen entworfen.
In stalinistischen, monarchischen oder islamistischen Gesellschaften, in denen Cäsaren auch Hohepriester sind oder sich als Götzen gerieren, wird eine andere politische Sprache gesprochen. Auch dafür ein aufschlussreiches Beispiel aus dem Zweiten Weltkrieg: Während die Alliierten unter Führung der USA im Namen der Freiheit gegen die Japaner kämpften, wurde in Asien der japanische heilige Krieg im Namen göttlicher Gerechtigkeit und göttlichen Friedens geführt.
„Das grundlegende Ziel der nationalen Politik Japans besteht in der Stiftung eines Weltfriedens in Einklang mit dem erhabenen Geist, in dem das Land begründet wurde: die ganze Welt unter einem Dach.“ Also sprach Premierminister Konoe 1940. Auch Islamisten haben das Ziel, die Welt unter einem friedlichen Dach zu vereinen, wenn erst einmal die Ungläubigen und ihre Türme vernichtet sind.
Wenn Politik und Religion miteinander verschmelzen, entwickeln kollektivistische Bestrebungen, für die häufig im Namen von Liebe und Gerechtigkeit geworben wird, die Tendenz, sich auf die ganze Welt auszuweiten oder wenigstens auf große Teile davon. Der Staat ist ein säkulares Konstrukt. Die Bruderschaft des Islam, die Kirche von Rom, Die-ganze-Welt-unter-einem-japanischen-Dach, der Weltkommunismus – sie alle hatten auf ihre unterschiedliche Art religiöse oder millenaristische Ziele.
Solche Ziele sind auch in den angeblich säkularisierten Staaten des Westens nicht unbekannt. Besonders in den USA versuchen rechte christliche Organisationen und andere religiöse Lobbygruppen, ihre religiösen Werte und Agenden in die nationale Politik einzuschleusen, mit Mitteln, die die Gründerväter schockiert hätten. Dass der US-amerikanische Reverend Jerry Falwell die Terroranschläge auf New York und Washington als eine Strafe für unsere weltlichen Sünden bezeichnet hat, zeigt, dass dieses Denken von dem der Islamisten nicht allzu weit entfernt ist.
Aber der Idee nach sind die USA und andere westliche Demokratien in den Kategorien von Ferdinand Tönnies’ Buch „Gesellschaft und Gemeinschaft“ (erstmals veröffentlicht 1887) ein Beispiel für „Gesellschaft“: eine Weise der Vergesellschaftung, die ihre Mitglieder durch einen Gesellschaftsvertrag verbindet. Demgegenüber basiert die „Gemeinschaft“ auf einem gemeinsamen Glauben, auf Blutsverwandtschaft oder auf tief verwurzelten Empfindungen unterschiedlichster Art. Bezeichnenderweise beschrieb der deutsche Publizist Edgar Jung den Ersten Weltkrieg als Kampf zwischen Intellekt (Westen) und Seele (Deutschland).
Feinde des Westens haben in der Regel auch den Ehrgeiz, Helden zu sein. Italiens Faschistenführer Benito Mussolini ermahnte seine neuen Römer: „Glauben, gehorchen, kämpfen!“ Islamismus, Nazismus, Faschismus und Kommunismus sind heroische Glaubensbekenntnisse. In Maos Ideal der permanenten Revolution ging es darum, alles unablässig in Aufruhr zu versetzen, es enthält den Entwurf einer durch heroische Gewalt gestählten Gesellschaft.
Der gemeinsame Feind der revolutionären Helden ist der situierte Bürger, der Stadtmensch, der kleine Angestellte, der gut genährte Börsenmakler, der seinen Geschäften nachgeht, kurz, es sind Leute, wie sie in einem Büro des World Trade Center gearbeitet haben könnten. Es ist eine Besonderheit des Bürgertums, dieser (Karl Marx zufolge) bislang vielleicht erfolgreichsten Klasse in der Geschichte, dass es von seinen beachtlichsten Söhnen und Töchtern so erbittert gehasst wird (Marx selbst eingeschlossen).
Das hat viel damit zu tun, dass es dem bürgerlichen Ethos an Heroismus mangelt, dass es keine großen Taten vollbringt. Der Held fordert den Tod heraus. Der Bürger ist süchtig nach persönlicher Sicherheit. Der Held zählt Todesopfer, der Bürger zählt Geld. Bin Laden wurde 1998 von einem Interviewer gefragt, ob er unter seinen Leuten Verräter fürchte. Er antwortete: „Diese Männer haben alles Weltliche hinter sich gelassen und sich zum Dschihad versammelt.“
Intellektuelle, die ihrerseits recht selten heldenhaft sind, haben häufig Hass auf den Bürger an den Tag gelegt und stattdessen das Heldentum angehimmelt – heroische Führer und heroischen Glauben. Unter Mussolini feierten italienische Künstler Geschwindigkeit, Jugend, Energie, Instinkt und wagemutige Todesverachtung. In Deutschland waren Gesellschaftswissenschaftler vor dem Zweiten Weltkrieg fasziniert vom Helden als Gegenspieler des Bürgers: Werner Sombarts Schrift „Händler und Helden“ und Bogislav von Selchows Werk „Der bürgerliche und der heldische Mensch“ sind nur zwei Beispiele dieses Genres.
Von Selchow war einer von vielen, beileibe nicht allen Deutschen, die die Ansicht vertraten, aus der bürgerlichen liberalen Gesellschaft sei das Leben gewichen, sie sei kalt, fragmentiert, dekadent, mittelmäßig geworden. Der Bürger versteckt sich immerzu in einem Leben ohne Gefahr, schrieb er, der Bürger ist bedacht, „den Kampf gegen das Leben“ auszuschließen, „wie ihm auch die notwendige Kraft fehlt, es in seiner ganzen Nacktheit und Härte auf männliche Weise zu meistern“.
Für Selchow, Ernst Jünger und ihresgleichen zeigte der Erste Weltkrieg eine andere, heldenhaftere Seite des Menschen. Darum wurde auch die Schlacht von Langemarck, eine besonders grauenhafte Episode des Kriegsjahres 1914, an der Jünger selbst teilnahm, ein solcher Gegenstand der Heldenverehrung. Mehr als 145.000 Männer starben in einer Folge gänzlich sinnloser Angriffe.
Aber die jungen Helden – viele von ihnen kamen, wie dreißig Jahre später Japans Kamikazepiloten, von Eliteuniversitäten – sollen, während sie in ihr frühes Grab stürmten, das Deutschlandlied gesungen haben. Zum Gedenken stimmte man oft die berühmten Worte an, die Theodor Körner ein Jahrhundert zuvor geschrieben hatte: „Nur in dem Opfertod reift uns das Glück.“
Während der ersten Woche des Krieges in Afghanistan wurde in einer englischen Zeitung ein junger Afghane zitiert: „Die Amerikaner lieben Pepsi-Cola, wir aber lieben den Tod.“ Das entspricht ganz der Gefühlswelt des Langemarck-Kultes.
Selbst die, die Sympathien für den demokratischen Westen haben, wie Alexis de Tocqueville, betonen den Mangel an Größe, die intellektuelle Gleichförmigkeit und die kulturelle Mittelmäßigkeit, die unseren Regierungssystemen inhärent sein soll. Tocqueville mahnte, Demokratie könne leicht zur Tyrannei der Majorität werden. Er bemerkte, es gebe in Amerika keine großen Schriftsteller oder überhaupt irgend etwas, was man als groß bezeichnen könnte.
Eine verbreitete, aber einigermaßen zweifelhafte Klage. Denn es kann keineswegs als ausgemacht gelten, dass das künstlerische und kulturelle Leben in New York mittelmäßiger ist als in Damaskus oder Peking. Vieles in unseren reichen, marktgesteuerten Gesellschaften ist in der Tat medioker, durchschnittlich, und Luxus verdient nicht per se Bewunderung, aber wenn die Verachtung des bürgerlichen leiblichen Wohlergehens zu Lebensverachtung wird, sollte man wissen, dass der Westen bedroht ist.
Diese Verachtung speist sich aus vielen Quellen, aber sie spricht vor allem die an, die sich machtlos, marginalisiert, ausgeschlossen oder geringschätzig behandelt fühlen: den Intellektuellen, der sich verkannt fühlt, den untalentierten Kunststudenten in einer Stadt voller brillanter Leute, den opportunistischen Jedermann, der in der Masse nicht auffällt, den jungen Mann aus einem Land der Dritten Welt, der die Gleichgültigkeit des überlegenen Westens als Hohn empfindet. Die Liste potenzieller Rekruten für einen Todeskult ließe sich beliebig fortsetzen.
Liberalismus, so definierte einer der frühen Nazitheoretiker, Arthur Moeller van den Bruck, ist „jedermanns Freiheit, mittelmäßig zu sein“. Der Weg aus der Mittelmäßigkeit, sagen die Sirenen des Todeskultes, führt über die Auflösung seines kleinen Ich in einer Massenbewegung, die erhabene Kräfte freisetzt, um im Namen des Führers, des Herrschers, Gottes oder Allahs etwas Großes zu schaffen. Der Führer personifiziert all das Begehren nach Größe, das man hat.
Was ist das bloße Leben von ein, zwei oder tausend Menschen, wenn es um höhere Dinge geht? Das ist die Lizenz zur Gewalt gegen andere: gegen Juden, Ungläubige, bürgerliche Liberale, Sikhs, Muslime oder wer immer ausgeschaltet werden muss, um einer größeren und großartigeren Welt den Weg zu bereiten. Ein amerikanischer Kaplan namens Francis P. Scott versuchte, dem Tokioter Kriegsverbrechertribunal die maßlose Brutalität zu erklären, die japanische Soldaten während des Krieges an den Tag gelegt hatten. Nach vielen Gesprächen mit ehemaligen Kämpfern kam er zu dem Schluss: „Sie hatten den festen Glauben, dass, wer ein Feind des Kaisers sei, nichts wert sein könne; je grausamer sie also ihre Gefangenen behandelten, desto größere Loyalität bezeugten sie gegenüber ihrem Kaiser.“
Der eigentliche heilige Krieger aber ist nicht der Folterer, sondern der Kamikazepilot. Das Selbstopfer bedeutet die höchste Ehre im Krieg gegen den Westen. Der Kamikaze ist das absolute Gegenteil des Bürgers, der um sein Leben fürchtet. Die größte Bereitschaft zu Opfertaten findet sich bei Jugendlichen. Die meisten Kamikaze hatten kaum die Oberschule hinter sich. Wie Bin Laden sagte: „Die Altersklasse zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig – das sind die, die sich zum heiligen Krieg und zum Opfer eignen.“
Aurel Kolnai schrieb 1938 in „The War Against the West“: „Die Tendenz zur Emanzipation der Frauen ist im Westen sehr ausgeprägt.“ Diese etwas pauschale Behauptung könnte dem Empfinden von Kolnais Feinden entsprungen sein. Alfred Rosenberg beispielsweise, der Propagandist der Nationalsozialisten, schrieb in seinem Buch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“: „Emanzipation der Frau von der Frauenemanzipation ist die erste Forderung einer weiblichen Generation, die Volk und Rasse, das Ewig-Unbewusste, die Grundlage aller Kultur vor dem Untergang retten möchte.“ Was auch immer dieser Wirrkopf mit dem Ewig-Unbewussten gemeint haben könnte, es ist klar, worum es geht. Frauenemanzipation führt zu bürgerlicher Dekadenz. Die eigentliche Rolle der Frau besteht in der Aufzucht heldenhafter Männer.
Für Bin Laden sind Männlichkeit und Frauen eine Obsession. Einer seiner liebsten okzidentalistischen Glaubenssätze weist darauf hin: „Man hat die Herrscher dieser Region (die Golfstaaten) ihrer Männlichkeit beraubt“, sagte er 1998, „und sie halten die Menschen für Weiber. Bei Gott, muslimische Frauen lehnen es ab, sich von diesen amerikanischen und jüdischen Prostituierten verteidigen zu lassen.“ Er weiß, dass der Westen dazu entschlossen ist, „uns unsere Männlichkeit zu rauben. Wir halten uns für Männer.“
Wenige moderne Gesellschaften waren so von Männern dominiert wie Japan während des Krieges, und die brutale Maßnahme, gleichermaßen koreanische, chinesische, philippinische und japanische Mädchen für Militärbordelle zu rekrutieren, war ein Zeichen für den niedrigen Stellenwert, den Frauen im japanischen Reich einnahmen.
Dennoch bewirkte der Krieg merkwürdigerweise und in einem gewiss nicht beabsichtigten Ausmaß die Emanzipation der japanischen Frauen. Weil die meisten kriegstauglichen Männer an der Front gebraucht wurden, mussten sich die Frauen um die Familien kümmern, auf dem Schwarzmarkt handeln und in den Fabriken arbeiten. Anders als die Männer, die die Niederlage als eine tiefe Demütigung erlebten, betrachteten viele japanische Frauen den Sieg der Alliierten als einen Schritt zu ihrer Befreiung.
Eine der wichtigsten Veränderungen im Nachkriegsjapan war, dass Frauen das Wahlrecht bekamen; schon 1946 nahmen sie es in großer Zahl wahr. Der Entwurf zur neuen Verfassung stammte vorwiegend von US-amerikanischen Juristen, aber die Artikel, die die Rechte der Frau betreffen, waren vor allem das Werk von Beate Sirota Gordon, einer bemerkenswerten Gestalt, die fast alles repräsentierte, was Feinde des Westens verabscheuten. Sie war Europäerin, gebildet, eine Frau und Jüdin.
All denen, die militärische Disziplin, Selbstopfer, Strenge und Führerverehrung als die höchsten gesellschaftlichen Ideale betrachten, erscheint die Macht der weiblichen Sexualität als Bedrohung. Von jeher sind es die Frauen, die Leben spenden und beschützen. Die Freiheit der Frau ist unvereinbar mit einem Kult des Todes.
Wenn weibliche Sexualität zur Schau gestellt wird, ist das in der Tat eine Provokation, nicht nur für heilige Männer, sondern für alle Unterdrückten, für die der Tod für eine höhere Sache die einzige Möglichkeit ist, Überschwang und Begeisterung zu erleben. Bilder von westlichen Frauen, halb nackt und in sexuell aufreizenden Posen in der Werbung für Hollywoodfilme, für Getränke oder was auch immer, sind in aller Welt zu sehen, genau wie jene Bilder der Skyline von Manhattan, und sie können ebenso frustrieren, wütend und wirr im Kopf machen: Auch sie sind die Verheißung einer sündigen, triebhaften Welt grenzenlosen Vergnügens, die für die meisten Menschen unerreichbar ist.
Es gibt keinen „Kampf der Kulturen“. In fast allen, besonders in den monotheistischen Religionen kann sich das Gift der Feindschaft gegen den Westen entwickeln. Und in allen Kulturen können Formen von säkularem Faschismus auftreten. Der gegenwärtige Konflikt verläuft jedenfalls nicht zwischen Ost und West, Angloamerika und dem Rest der Welt oder zwischen Judentum/Christenheit und Islam. Der Kult des Todes ist ein tödliches Virus, das aus den unterschiedlichsten historischen und politischen Gründen zurzeit vor allem in den extremen Formen des Islam gedeiht.
Okzidentalismus ist das Credo der islamistischen Revolutionäre. Ihr Ziel ist die Schaffung einer islamischen Welt unter islamischem Recht, der Scharia, interpretiert von ausgewiesenen Gelehrten, die sich im Dschihad (lies: Revolution) bewährt haben. Darin steckt ein Aufruf, die islamische Welt vom Schmutz des götzendienerischen Westens zu säubern, wie Amerika ihn verkörpert.
Das Ziel ist, an den heidnischen Heiligtümern Amerikas zu rütteln und auf möglichst spektakuläre Weise zu zeigen, dass Amerika verwundbar ist, ein „Papiertiger“, wie es im revolutionären Jargon heißt. Diese „Propaganda der Tat“ gegen die hochmütigen USA soll die Kräfte des Dschihad vereinigen und dann der ganzen islamischen Welt die Revolution aufzwingen.
Ajatollah Chomeini war „Stalinist“ in dem Sinne, dass er die Revolution zunächst in einem wichtigen Land, Iran, durchführen wollte, und sich dann erst Gedanken machte, wie sie exportiert werden könnte. Im Unterschied dazu ist Bin Laden „Trotzkist“, er betrachtet Afghanistan als Basis für den unverzüglichen Export der Revolution. Es gibt innerhalb der islamistischen Bewegung Spannungen zwischen „Stalinisten“ und „Trotzkisten“.
Der 11. September hat die Trotzkisten nach vorne gebracht. Al-Qaida unternimmt den ernsthaften Versuch einer islamistischen Revolution, die von Indonesien bis Tunesien zum Sturz von Regierungen führen könnte. Noch ist das nicht gelungen. Wir können uns auf weitere, von kruden okzidentalistischen Tiraden begleitete Aktionen einer „Propaganda der Tat“ gegen die USA und amerikanische Einrichtungen gefasst machen.
Der Westen, und nicht nur der geografische Westen, sollte darauf mit der ganzen Kraft und Intelligenz des kühl kalkulierenden bürgerlichen Antiheroismus antworten. Wirtschaftsprüfer, die bei verdächtigen Kontoauszügen stutzig werden, und Undercoveragenten, die sich mit Bestechungsgeldern ihren Weg bahnen, werden in diesem Kampf auf lange Sicht mehr ausrichten als militärische Sondereinheiten, die sich durch die Höhlen von Afghanistan bomben.
Wenn aber in diesem finsteren Krieg eines klar ist, dann dies: Wir sollten auf den Okzidentalismus nicht mit gehässigem Orientalismus reagieren. Wenn wir dieser Versuchung erliegen sollten, hätte das Virus auch uns befallen.
Copyright: New York Review of Books, 2002. Aus dem Englischen – angefertigt für die Zeitschrift Merkur – von RUDOLF HELMSTETTER
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