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„Bekloppte – das ist die Mehrheit“

Der Theaterregisseur und Filmemacher Christoph Schlingensief kehrt ins Fernsehen zurück. In seinem neuen sechsteiligen Projekt „Freakstars 3000“ gründet der ständig Suchende zusammen mit Behinderten eine Popband (Sa., 21.00 Uhr, Viva)

Interview HENNING KOBER

taz: Sie haben heute im Behindertenheim Tiele-Winkler in Lichtenrade gedreht. Wie war der Tag mit den Bewohnern?

Christoph Schlingensief: Sehr gut. Es ist anstrengend, aber die Arbeit mit den dort wohnenden Behinderten erzeugt mehr Kraft als sämtliche Proben am Theater. Sonst fahre ich oft von Dreharbeiten weg und denke, was haben wir da gemacht, wie bekommt man das zusammen. Das hier ist vollkommener Zeitfluss.

Was passiert in den sechs Folgen von „Freakstars 3000“ ?

Wir orientieren uns am Konzept der „Popstars“-Sendung. Beim Wien-Container und beim „Quiz 3000“ haben wir ja auch schon das Big-Brother-Prinzip verwendet. Wir gründen mit den Behinderten eine Band, deren Lieder im Juli auf einer CD veröffentlicht werden. Außerdem gibt es wöchentliche Rubriken, wie „Freakmann“, die sich an der Friedman-Talkshow orientiert, den Wutanfall der Woche oder einen Presseclub. Es geht mir nicht darum, einen neuen Mitleidsverein zu entdecken und sich jetzt mal um Behinderte zu kümmern, sondern ich glaube, so genannte Behinderung ist eine Sprache, die wir verloren haben. Die können wir nicht imitieren, aber es lohnt sich zu schauen, ob das nicht ein Sprachkodex ist, der in uns selbst wohnt, und den wir verdrängt haben.

Sind in Ihrer Wahrnehmung nicht viel mehr Menschen behindert, krank und gelähmt?

Es gibt genug Leute, die vom System Abschied genommen und als einzige Überlebenschance ihr eigenes gebaut haben. Jetzt bleibt nur die Frage, gehe ich in die Politik und bringe die Leute leise um oder werde ich Robert Steinhäuser und ballere meine Lehrer ab. Bekloppte, Verirrte, traurige Menschen – das ist die Mehrheit.

Und wer ist für Sie ein Freak?

Da ich den alten Tod-Browning-Film „Freaks“ sehr mag, würde ich sagen, der Freak ist die Situation selbst, die uns zur Unterscheidung zwingt, was normal ist und was nicht. „Wir sind gesund und ihr seid krank“ hieß ein Lied der Gruppe „FSK“ Anfang der 80er-Jahre. Als behindert gelten Menschen, die körperlich, seelisch oder geistig beeinträchtigt sind und deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dadurch erschwert wird. In Deutschland leben mehr als acht Millionen Behinderte. Sie haben ihr eigenes System und müssen gleichzeitig auch noch mit unserem angeblich „normalen“ umgehen, während wir nicht mal mit unseren Nachbarn klarkommen.

Muss ich in dieser Gesellschaft nicht schon als Jugendlicher ein Freak werden, um mich all von den Idioten abzugrenzen?

Wir berufen uns bei „Freakstars“ indirekt auf das erste Sozialistische Patientenkollektiv, das den Slogan hatte: „Irre ans Gewehr, aus der Krankheit eine Waffe machen.“ Bei Joseph Beuys heißt das: „Zeig mir deine Wunde.“ Unsere Frage ist: Was sind deine Wunden? Kann ich diese Wunden als Kapital begreifen? Es bleibt dir ja nichts anderes als Abgrenzung, nur darf man das nie benutzen, um sich als irgendwas Besonderes zu fühlen.

Was sind Christoph Schlingensiefs Wunden?

Nach dem Wien-Container bin ich ziemlich abgesackt. Ich hatte etwas gemacht, was die Leute mochten, und dann denkst du plötzlich, wie kann man das erhalten. Ich durfte auf einmal für die FAZ schreiben, wurde zu anderen Sachen eingeladen und habe angefangen, das zu genießen. Bis ich merkte, dass ich gar nicht mehr da war, ich war in einem ganz anderen System angekommen. Ich wollte doch mal was durchsetzen, hab völlig verblödet und peinlich, als peinlichste Persönlichkeit, etwas gewollt. Wieso bist du plötzlich so anders geworden? Versuch es noch mal. „Freakstars“ ist da ganz wichtig.

Steuern Sie mit Ihrer Arbeit auf ein Ziel zu, gibt es eine Schlingensief-Traumwelt?

Es wäre der Tod meiner Arbeit, eine endgültige Vorstellung dingfest zu machen. Und ich bin nicht bereit, vielleicht auch nicht in der Lage, so etwas auszuformulieren, wie zum Beispiel Beuys mit der Sozialen Plastik. Es geht nicht um Unruhe oder Provokation, das ist alles Quatsch. Ich bin ständig auf der Suche, muss mich an einer Wand langtasten, eine Ritze entdecken und darin rumpopeln. Das ist natürlich etwas Kindliches. Solange ich mir vorgenommen hatte, vor einem von mir gemalten Bild zu stehen, war das immer enttäuschend. Erst seitdem ich beim Theater bin, habe ich begriffen, wir stehen vor meinem Bild, in dem sie mit mir stehen. Und ich stehe übrigens auch in ihrem Bild – vor ihnen. Das ist der Gedanke, aber wie kann ich das jetzt formulieren?

Für „Freakstars 3000“ haben Sie den Sender gewechselt, von MTV zu Viva plus. Sind Sie etwa ein Buddy von Dieter Gorny?

MTV hat mich gezwungen, an einem Wochenende vier Folgen zu drehen. Auf der einen Seite war das interessant, weil dadurch ein gewisser Verfall sichtbar wurde, dann sollte ich aber das Material nicht selbst schneiden dürfen. Ich musste 1.500 Mark zahlen für jeden Tag, den ich in den Schneideraum gegangen bin. Darüber habe ich mit Gorny geredet.

Keine Skrupel, einem in erster Linie gewinnorientierten Börsenunternehmen künstlerisches Profil zu geben?

Klar schlimm, Viva, das kommt dann automatisch. Nennen Sie mir einen Sender, der nicht gewinnorientiert denkt? Bloß weil da jüngere Leute vor hocken und nicht bei Christiansen den ganzen Politainment-Scheiß gucken? Ich hab auch mit den Öffentlich-Rechtlichen gesprochen, die hatten dann aber doch Bedenken wegen des Rundfunkrats und glaubten, dass die Behinderten bei Pfarrer Fliege besser aufgehoben sind. Außerdem waren sie viel gieriger als Gorny. Jetzt drehen wir für ein Zehntel des Produktionsbudgets. Es geht mir um die Sache und nicht ums Verdienen.

Ihnen wird oft vorgeworfen, sich aus ihren Projekten zu schnell zu verabschieden.

Was heißt denn schnell? Im Anschluss an das Hamlet-Projekt am Schauspielhaus Zürich habe ich mich ein Jahr lang dafür eingesetzt, dass der Innenminister den Musikverlag von Torsten Lemmer, einem der mitwirkenden Rechtsradikalen, kauft, um an die Adressliste von Käufern rechtsradikaler Devotionalien zu kommen, aber Schily war das völlig egal.

Was macht Torsten Lemmer heute?

In der Woche, als der V-Mann der NPD aufgeflogen ist, hat der Verfassungsschutz ihm eine Million geboten. Da wollte man dann plötzlich die Adressliste haben. Das ist schon frustrierend, man macht ein Jahr alle Anstrengungen, Herr Schily hat Angst vor Entdeckung, und auf einmal können sie superschnell zugreifen. Die sind doch alle schwerbehindert.

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