: Unfreiwillige Mahner
Jüdische Repräsentanten haben sich nie in die Rolle der moralischen Wächter gedrängt. Wer dies dennoch unterstellt, geht der Tabubruch-These Möllemanns auf den Leim
Die gegenwärtige Debatte über den Antisemitismus in Deutschland, angestoßen vor allem durch die – wie auch immer gemeinten und zurückgenommenen – Äußerungen von Jürgen W. Möllemann, haben eine Schlagseite, die selbst bei klugen und gut meinenden Kommentatoren nicht zu übersehen ist: Sie geht von vielfach falschen Voraussetzungen aus, von der die wesentliche in einer Frage daherkommt – so auch im Debattenbeitrag Stefan Reineckes und Eberhard Seidels (taz vom 25. 5.): „Ist Deutschland aus historischer Verantwortung dazu verdammt, die Politik Israels kritiklos hinzunehmen?“
Selten ist schon eine Frage falsch, und doch: Mehr als eine rhetorische Frage ist diese nicht, denn die Antwort auf sie kann selbstverständlich nur lauten: „Natürlich nicht!“ Die deutschen Medien, auch deutsche Politiker, haben seit Gründung des jüdischen Staates im Nahen Osten stets und durchaus deutlich die Politik Israels kritisiert. Das Unangenehme an der Frage ist deshalb, dass sie unterstellt, es gebe wenn nicht ein Verbot, so doch ein Tabu, Israel zu kritisieren (und es sei heute doch demokratisch gut, wenn auch dieses Tabu falle). Möllemann benutzt genau diese Argumentation, um sich als Tabubrecher, Aufklärer und „I-sag’s-wie’s-ist“-Klartextsprecher zu profilieren. Diese Frage Möllemanns aufzunehmen heißt deshalb schon, ihm auf den Leim zu gehen – und das, obwohl die, die eine solche Frage stellen, in der Mehrheit in keiner Weise eine solch verdächtige Nähe zum Antisemitismus beweisen wie der FDP-Vize.
Ähnlich schief läuft die Diskussion bei der Forderung: Die deutsche Mehrheitsgesellschaft müsse aufhören, ihrer jüdischen Minderheit und deren Repräsentanten die moralische Definitionsmacht darüber zu delegieren, was als antisemitisch zu gelten habe: Dies unterstellt, dass sich die Juden in Deutschland – den Begriff „deutsche Juden“ hören die Juden hierzulande aus teils verständlichen Gründen nicht so gern – um diese Definitionsmacht bemüht hätten (vielleicht, um mit diesem ethischen Schraubstock politische Macht zu erlangen).
In der Regel aber war es gerade den jüdischen Repräsentanten eher unangenehm, dauernd auf den Stand des Antisemitismus in Deutschland angesprochen zu werden und vor einer möglichen Zunahme zu warnen. Vielen Vertretern der Juden war stets bewusst, dass man nicht bei jeder Nazifackel am Brandenburger Tor „Feuer“ rufen darf, da man sonst Gefahr läuft, als Mahner nicht mehr gehört zu werden, wenn es wirklich brennt. Andererseits ist es durchaus natürlich, dass zuerst die Betroffenen definieren, was sie als diskrimierend begreifen: So melden sich Feministinnen oder Ausländerräte zu Recht zuerst zu Wort, wenn etwas frauenfeindlich oder ausländerfeindlich erscheint – würde man deshalb von ihnen sagen, dass an sie die Definitionsmacht dafür delegiert wird, was frauenfeindlich und ausländerfeindlich ist?
Missverständlich (und sicherlich anzweifelbar) ist auch die Aussage, dass unsere Demokratie nun die Schoah erfolgreich „historisiert“ habe und mittlerweile keine „Wächter“ mit oder ohne Anführungszeichen in der Person von respektablen Juden mehr brauche. Ob mit der Wiedervereinigung, dem Kampfeinsatz von deutschen Truppen im Ausland außerhalb des Nato-Gebietes und solchen Ereignissen wie der Eröffnung eines Jüdischen Museums mitten in Berlin tatsächlich eine „Historisierung des Nationalsozialismus“ erfolgt, erreicht oder gar geglückt sei, ist nicht zwingend: Auch wenn heute in der Tagespolitik weniger mit der Schoah argumentiert wird. Nicht zuletzt die gegenwärtige Diskussion um Möllemann und Martin Walser belegt, dass die deutsche Schuld der Judenvernichtung und ihr Verhältnis zu den Juden nach wie vor ein immens wichtiges Argument in der politischen Debatte ist. „Historisiert“, also geschichtlich eingeordnet und schmerzlos verwahrt, ist da wenig.
Und wie beim Problem der angeblichen Delegation der „Definitionsmacht“ über den Begriff „antisemitisch“ an die Juden war die unterstellte „Wächter“-Funktion der Juden für die Demokratie keineswegs eine Rolle, die diese selbst an sich rissen. Ignatz Bubis klagte häufig darüber, dass er stets angerufen wurde, wenn ein Ausländer von Neonazis zu Tode gehetzt wurde. Er hat dennoch meistens eine Stellungnahme dazu abgegeben: Nicht, weil er sich als „Wächter“ über die deutsche Demokratie begriff, sondern aus einer historisch erklärbaren besonderen Sensibilität für mehr oder weniger versteckte Diskriminierungen oder bloß Ungesagtes: Dass er als Einziger in der Paulskirche Martin Walser Standing Ovations verweigerte und als Erster das Untergründige der Rede begriff, zeigt auch angesichts der erneuten Walser-Debatte in diesen Tagen, wie fein seine Sensoren waren (wofür man ihm auch im Nachhinein noch dankbar sein sollte).
Schließlich wird es den jüdischen Repräsentanten nicht gerecht, wenn ihre öffentliche Verteidigung Israels und ihr meist wohlwollendes Verständnis für die Hintergründe der Scharon’schen Militärpolitik als Versuch gewertet wird, den israelischen Premier „mit dem moralischen Bonus, über den sie hierzulande verfügen, vor Kritik zu immunisieren“, wie Seidel und Reinecke schreiben. Wer genau hinhörte, hat von den jüdischen Repräsentanten in Deutschland nie die schlichte Gleichung gehört: „Kritik an Scharons Politik ist (versteckter) Antisemitismus.“ Dass sie allerdings in mancher Kritik an dessen Politik antisemitische Untertöne entdeckten (auch wegen ihrer größeren Sensibilität), ist schlicht gerechtfertigt: Auch in manchen Leserbriefen an die taz schlägt die Sympathie für die leidenden Palästinenser sehr schnell in antisemitische Unterstellungen um – die schlimmsten Zuschriften dieser Art wurden in dieser Zeitung nicht veröffentlicht.
Doch selbst wenn es stimmen sollte, dass jüdische Repräsentanten allzu schnell den Antisemitismus-Hammer (um nicht „Auschwitz-Keule“ zu sagen) rausholten, um Kritik an Scharons Politik unmöglich zu machen: Verfehlt ist es, deshalb ihnen vorzuwerfen, „sie rüsten unfreiwillig antijüdische Ressentiments mit dem Anschein des Rationalen auf“. Von diesem Vorwurf bis zu Möllemanns bodenlosem Anwurf, Michel Friedman trage selber zum Antisemitismus bei, ist es nur ein Schritt. Ob freiwillig oder unfreiwillig, ob Wahrheit oder nur Anschein: „Rational“, also vernünftig, werden antijüdische Ressentiments dadurch noch lange nicht.
Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich ist die Primitivität der Äußerungen Möllemanns und die Klasse der wohl gesetzten Argumente in dem seriösen, aber in manchem beispielhaften taz-Debattenbeitrag nicht zu vergleichen. Wer dort judenfeindlichen Gestank wahrnimmt, mag eine gute Nase haben, wer hier antisemitische Untertöne hört, hat eher einen Tinnitus. Größte Vorsicht aber bei Sprache, Argumentationsweise und Zwischentönen sind bei der gegenwärtigen Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit in diesen sensiblen Fragen unabdingbar. PHILIPP GESSLER
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