: Letzte Ausfahrt Lehrter Stadtbahnhof
Heute Morgen um 3.41 Uhr fuhr die letzte S-Bahn durch den Klinkerbau am neuen Lehrter Bahnhof. Mit dem Abriss des S-Bahnhofs im kommenden Monat geht eine Geschichte zu Ende, in der sich die vergangenen 120 Jahre der Stadt spiegeln
von PHILIPP GESSLER
Natürlich ist das lächerlich: Man kann die Erst- oder Zweitklässler, die gerade mit gesenkten Köpfen ihre Fußballerbildchen tauschen, nicht anstupsen und sagen: „Mensch, Jungs, schaut mal kurz nach draußen! Erinnert euch daran: Das ist ein geschichtlicher Moment! Ihr fahrt gleich durch den Lehrter Stadtbahnhof, durch den heute zum letzten Mal S-Bahnen fahren. Kommenden Monat wird er abgerissen – viel Geschichte geht verloren!“ Nein, das kann man nicht machen.
Überhaupt: Wen interessiert schon Geschichte? Berlin hat viel davon, vielleicht zu viel. Doch der Lehrter Stadtbahnhof war etwas Besonderes, ein Sehnsuchtsort, der die vergangenen 120 Jahre der Stadt reflektiert und konzentriert wie ein Konkavspiegel.
Lutz Pommerening hat nicht viel Sinn fürs Geschichtliche, er hat anderes zu tun. „Ein paar Jahre“, genauer weiß er es gar nicht, arbeitet der 40-Jährige im geschwungenen Klinkerbau mit den eleganten Stahlträgern als Stationsvorsteher. Er hat eine rote S-Bahn-Mütze auf und fertigt die Züge ab. Geschätzte hunderttausendmal mit den gleichen Pausen, im gleichen Singsang: „Nach Westkreuz, zurückbleiben bitte!“ Wie oft er das nun schon gemacht hat? Genau 60 Züge pro Stunde fuhren durch den Bahnhof.
Warum er so gelassen sei? „Kriegen doch was Neues, was Schöneres“, sagt er mit dem Blick auf den imposanten Bahnhofsneubau, an dessen Doppelkuppel Bauarbeiter werkeln. Ob er sich nicht ein Stückchen Bahnhof als Erinnerung mitnehmen will? „Nö“, sagt Pommerening. Ganz so nüchtern aber ist er wohl doch nicht. Einen älteren Kollegen, der ihn, gestützt auf einen Stock, besuchen kommt, macht er darauf aufmerksam, dass er heute, dem Tag zu Ehren, eine Krawatte trage.
Solche Ehrenbekleidung war schon am 7. Februar vor 120 Jahren angesagt, als der später so genannte „Lehrter Stadtbahnhof“ eröffnet wurde. Es war die Stadtbahnstation des „Lehrter Bahnhofs“, des Fernbahnhofs, von dem die Züge in Richtung Hannover gingen. Architektonisch war das spektakulär: Eine S-Bahnstation auf der Eisenkonstruktion des Fernbahnhofs. Genau 91.753 Mark kostete die Station. Sie trug ein 185 Tonnen schweres Stahldach.
Doch es dauerte nur rund rund 40 Jahre, da baute man den im italienischen Renaissance-Stil gehaltenen Bahnhof wieder um: Von 1926 bis 1928 erhielt er – seit 1911 Lehrter Stadtbahnhof genannt – eine neue Hallenkonstruktion. Gleich um die Ecke wollte Hitler wenig später seine gigantomane „Große Halle des Volkes“ bauen – die Niederlage in seinem Krieg verhinderte dieses relative Schrumpfen des Bahnhofs.
Ein böser Geist rauscht hier noch: Um die Ecke fand man 1972 den Schädel des in den letzten Kriegstagen aus dem Führerbunker geflohenen Reichsleiters der NSDAP, Martin Bormann. Lange glaubten viele, er lebe noch. Angst schwang da mit.
Mit großen Gefühlen ging es bald nach 1945 am Lehrter Stadtbahnhof weiter, da er für Reisende in den Westen der erste Bahnhof Westberlins war. Für die jüngst verstorbene Publizistin Marion Gräfin Dönhoff war die Station Ausgangspunkt ihrer „Reise in ein fernes Land“. Ab 1984, als die BVG auf Westberliner Gebiet die S-Bahn-Strecken übernahm, wurde im Lehrter Stadtbahnhof das Schaffnerpersonal gewechselt: Ab hier fuhren Ostschaffner weiter Richtung Friedrichstraße und Tränenpalast. Im Mai 1986 gab es zwischen Ost- und Westberlin diplomatische Verwicklungen, da ein Schild fälschlicher Weise zum „Grenzübergang“ Invalidenstraße wies – das durfte aber so nicht heißen, da diese Grenze keine im völkerrechtlichen Sinne war. Deshalb lauteten die Schilder auf „Übergang Invalidenstraße“. Zur 750-Jahr-Feier der Stadt wurde der verfallene Bahnhof 1987 für zehn Millionen Mark renoviert – er gehörte zu den Schmückstücken der S-Bahn-Architektur in der Hauptstadt.
Kein Wunder also, dass mehr als sieben Hobbyfotografen und Videofilmer jede Ecke, jeden Zug festhalten, der an diesem letzten Tag einfährt. Der gebürtige Berliner und Postpensionär René Armbrust hat schon insgesamt 20 Stunden Videomaterial, aber filmt noch immer. Der Abriss des Bahnhofs stimmt ihn „wehmütig“: „Ein altes Stück Berlin geht weg.“ Er erinnert sich an das „Klang-klang, Klang-klang“ der alten Fernzüge, die letzten Dampfloks im Jahr 1972, das Feuerwerk André Hellers und die Reichstagsverhüllung Christos: „War sehr gut von hier zu sehen.“ Gern mitnehmen würde er die Kandelaber, die die Hinweisanlagen tragen – alle Schilder seien ja schon neulich offiziell abmontiert worden: auch zum Schutz vor „Eisenbahnfans“, wie Armbrust einräumt.
Handwerker schrauben die Informationskästen der S-Bahn ab. Um 3.41 Uhr soll der letzte Zug hier durchrattern. Pommerening wird den Zug nicht abfertigen, das wird ein Kollege machen. Diskussionen darüber habe es nicht gegeben, sagt der Stationsvorsteher. Das ging streng nach Dienstplan. Keine Sentimentalitäten, bitte!
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