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Aufstieg am schönen Berg

taz-Serie „Berliner Bergwelt“: Sie war einst wüster Sandberg und böhmische Kolonie. Eine Irrenanstalt und das erste offen schwul-lesbische Lokal siedelten an der Erhebung, die Schöneberg seinen Namen gab. Eine Bergwanderung mit Rückblicken

von SABINE AM ORDE

Zwischen dem blauen Schriftzug der Heilsarmee und den Königskolonnaden rauscht gleichmäßig der Feierabendverkehr vorbei. Frauen mit vollen Einkaufstaschen und ein junger Schlipsträger von der Sparkasse hetzen dem Doppeldecker-Bus hinterher, zwei Jungs trotten vom Fußball nach Hause. Hier am Eingang zum Kleistpark muss es wohl gewesen sein, wo sich der Königliche Oberkonsistorialrat und „Erdbeschreiber“ Anton Friedrich Büsching 1780 auf eine neue Etappe seiner Reise gemacht hat.

„Das Dorf liegt auf einer Höhe“, schreibt Büsching später in seinem Reisebericht, „welche man bey der ersten Bebauung des Orts für einen schönen Berg, wenigstens in Ansehung der Aussicht gehalten haben muss, weil man das Dorf davon benannt hat. Die Aussicht ist auch gut, insonderheit nach Berlin und Charlottenburg, allein es fehlt an fließendem Wasser, und an Wald oder Heide.“ Der Oberkonsistorialrat hat sich an jenem Tag auf den Weg nach Alt-Schöneberg gemacht. Und damit jene sanfte Erhebung erklommen, die, zwischen dem Berliner Haupttal und dem Plateau des Teltow gelegen, erst dem Dorf und später dem Berliner Bezirk Schöneberg seinen Namen gab.

Damals war die Straße, die sich auch heute noch durch Schöneberg zieht, die bedeutendste Verbindung von Potsdam nach Berlin. Heute heißt sie Hauptstraße, und der schöne Berg erhebt sich vom Kleistpark zum Kaiser-Wilhelm-Platz.

Am Fuße des Berges kann es richtig lauschig sein. Zumindest, wenn man die Geschichte aus dem Kopf verdrängt und sich einige Schritte von der Straße entfernt. Wenn man durch die Königskolonnaden geht, in den Park hinein. Früher standen sie am Alexanderplatz, erst 1910 wurden sie hierher versetzt. „Die nach dem Kleistpark versetzten Kolonnaden müssten in diesem Parkrahmen Ruine sein oder wenigstens stärker verwittern. Man sollte wenigstens für Vogelnester sorgen …“, spottet später der Berlinflaneur Franz Hessel. Auch heute noch wirken die Kolonnaden seltsam fehlplatziert.

Im Park selbst ist es ruhig, auf der runden Grasfläche in der Mitte zieht ein Jogger seine Kreise. Lassen wir uns vor dem Start der Bergwanderung zu einer kurzen Rast nieder. Beobachten kann man ein wild knutschendes Teeniepaar und zwei Alkis, die auf einer Bank ihr Bier trinken. Von der düsteren Geschichte des riesigen Justizgebäudes gegenüber lassen sich die vier nicht stören. Während der Nazizeit tagte hier der Volksgerichtshof, der unter anderem die Todesurteile gegen die Widerstandskämpfer des 20. Juli fällte. Der Alliierte Kontrollrat residierte nach dem Krieg in dem Bau, heute ist es das Kammergericht.

Als Anton Friedrich Büsching auf Reisen ging, lag hier, von Weideland und Wiesen umgeben, der Botanische Garten, ein beliebter Ausflugsort der Berliner. „Die Sehenswürdigkeit dieses in seiner Art einzigartigen Parks war das Palmenhaus, dessen seltener Bestand an tropischen Pflanzen zum Teil noch vom Großen Kurfürsten angelegt war“, erinnert sich 1920 der Maler und Sozialdemokrat Hans Baluschek, der Vorsitzender der Schöneberger Kunstdeputation war. „Die Riesenpalme, welche sich jetzt im neuen Botanischen Garten in Dahlem befindet, wuchs und gedieh im alten Palmenhaus. Wenn die Victoria regia blühte, strömten die Naturfreunde in das niedrige Glashaus.“

Doch genug sinniert, der schöne Berg will bestiegen sein. Früher wurde er spöttisch „Monte bello nuovo“ genannt – oder auch schlicht Böhmerberg. Protestantische Glaubensflüchtlinge aus Böhmen, meist Textilarbeiter oder ländliche Tagelöhner, waren die ersten Siedler hier, das hatte Friederich II. 1750 angeordnet. Für die Kolonie wurde ein „wüster Sandberg“ ausgewählt, der zwischen dem Ende des alten Dorfes und dem Botanischen Garten am Fuße des Berges lag. Auf 60 Morgen Land wurden 20 Grundstücke geschaffen, die Kolonie wurde Neu-Schöneberg genannt.

Vom Kleistpark geht unser Weg an dem riesigen Gebäude der BVG vorbei, vor dem acht grell angemalte Buddy-Bären gute Laune verströmen sollen, über die Grunewaldstraße hinweg, an der Zoulou-Bar vorbei. Auf der anderen Straßenseite liegt das „Andere Ufer“, das 1977 als bundesweit erstes offen schwul-lesbisches Lokal gegründet wurde. Keine Klingel, kein Guckloch, dafür große Panoramascheiben – damals war das eine Sensation. David Bowie und Michel Foucault sollen hier bald Kaffee getrunken haben.

Noch immer gibt es auch ein paar Häuser weiter den Berg hinauf die Bücherhalle. In dem riesiges Antiquariat kann man zu ebener Erde und auf der Galerie Regale von dreieinhalb Meter Höhe durchstöbern, jede Woche wird das große Schaufenster mit den interessantesten Neuerwerbungen dekoriert. „Der Fotografische Akt“ und „Schule des Lautenspiels“ liegen dort aus, auch Werke von Dunja Barnes und Gertrude Stein. Das Traditionskino Notausgang dagegen, in dem eine Ernst-Lubitsch-Skulptur ihren festen Stammplatz hatte, ist inzwischen geschlossen. Der schöne Berg kämpft wirtschaftlich um seine Existenz.

Von besseren Zeiten zeugen zahlreiche Prachtbauten, die um die Jahrhundertwende entstanden – und heute zwischen billigen Neubauten aus dem Wiederaufbauprogramm zu finden sind. Am Eingang der Hauptstraße Nummer 11 schauen den Besucher von links und rechts Löwen an, im Treppenhaus blicken weiße Adler auf ihn herab. Das Gebäude soll einst eines der schönsten in Schöneberg gewesen sein. Seine eiserne Kuppel krönte eine riesige Weltkugel, die nachts elektrisch beleuchtet wurde. Im Erdgeschoss eröffnete 1903 eines der ersten Schöneberger Kaufhäuser. „Ein Hauch von Weltstadt“, heißt es in einer historischen Broschüre des Bezirksamts, „erfasste damals die aufstrebende Stadt Schöneberg und ihre boulevardartig gestaltete Hauptstraße“.

Wer heute vor dem Gebäude steht, mag von Weltstadtflair nicht viel entdecken. An der Fassade des Rundbaus ist der Schriftzug der Hotel-Pension Delta angebracht, im Erdgeschoss verkauft die Firma Plus Lebensmittel. Franz Hessel hatte mit dem Metropolitanen schon 1929 Probleme: „Und nun hinein ins eigentliche Schöneberg“, schreibt er. „Da ist eine Hauptstraße, wo es alles gibt: zwiebelig getürmte Häuser mit Aufgängen nur für Herrschaften. Läden mit Duettbrennern und Proviantdosen mit verstellbarem Abteil und ähnlich praktisch heißendem Bedarf. Wir wollen nicht verweilen. Diese Gegend macht ungewöhnlich traurig.“ Traurig kann auch der obere Teil des schönen Bergs machen. Straßencafes oder ansprechende Schaufensterauslagen gibt es hier nicht. Immer mehr Läden stehen leer oder beherbergen Billiganbieter.

Steigt man die Hauptstraße ein Stück weiter hinauf, fällt einem bald an einer Brandmauer eine uralte Reklame auf, die für Seidenwaren aus hauseigener Schneiderei wirbt. Davor steht ein Flachbau, in den ein türkischer Supermarkt eingezogen ist, und zwei kleine, heruntergekommene alte Gebäude. Sie gehörten einst zur „Maison de Santé“, einer 1862 gegründeten Kuranstalt. „Die Stadt Berlin“, erinnert sich Hans Baluschek, „gab später mehrere hundert Geisteskranke an die Maison de Santé ab, weil ihre Anstalten überfüllt waren. Diese Geisteskranken, welche in blauen Kitteln in die Anstalt kamen, wurden im Schöneberger Volksmund die ‚Blauen‘ genannt.“ Im Laufe der Zeit wurde das Maison de Santé zur reinen Irrenanstalt.

Geht man an dem Stand mit allerlei lecker aussehenden Pasten vorbei auf den Parkplatz des Supermarktes, dann sieht man noch, wie groß das Gelände des Maison de Santé früher war. Dazu gehörte auch das Grundstück des einstigen Cafés Schilanek. Das Café von „Mutter Schilanek“, schreibt Baluschek, „lockte am Mittwoch und Sonntag Scharen von Berlinern nach Schöneberg, wo die Familien ihren Café kochten. Daneben befand sich das alte Wendbachsche Grundstück, welches später in den Besitz des Gastwirts Pannier überging. […] Hier wurden die Familienfeste der gut situierten Schöneberger Bürger gefeiert. Im Garten rollten die Kegelkugeln, und Schaukeln, Karussells, Schieß- und Würfelbuden sorgten für die gute Laune.“

Die böhmischen Kolonisten hatten schon 1752 die Schankerlaubnis erhalten, wenn auch nur für den eigenen Bedarf. Die Lizenz sollte zunächst als „Reiheschank“ von einem zum anderen abgegeben werden, wurde aber schon bald an einen Kolonisten verpachtet. Die erste Gaststätte entstand – und weitere folgten. Heute muss man für die nächste Gastwirtschaft noch ein Stück weiter den Berg hinauf.

Vor dem gehobenen Schnäppchengeschäft Strauss Innovation debattiert ein Ehepaar, ob die ausgestellten Gartenmöbel für den Balkon wohl die richtigen sind. „Vielleicht sind sie einfach zu groß“, sagt die Frau. Im Burckardtschen Park, der hier früher war, hätten die Möbel wohl eher verloren gewirkt. Burckardt war Möbelfabrikant am Hausvogteiplatz, Hoflieferant des Königs und Kommerzienrat. Auf seinem Grundstück, schreibt Baluschek, „ragte der markante Aussichtsturm empor, von dem man bis nach Potsdam sehen konnte und bequem die Parade auf dem Tempelhofer Feld besichtigen“.

Damit sind wir fast am Ziel, dem Gipfel des schönen Berges, dort, wo früher das alte Dorf begann. Hier auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz stand einst ein Denkmal des Kaisers; im Krieg wurde es eingeschmolzen. An das alte Schöneberger Rathaus erinnert nur noch eine Gedenktafel an dem Neubau neben der Berliner Bank. Zur Einkehr nach dem Gipfelsturm müssen noch einige Schritte gegangen werden. Auf dem Platz selbst lädt nichts zum Verweilen ein. Allein zwei Alkis trotzen auf der Mittelinsel dem tosenden Verkehr.

Zum Weiterlesen: „Schöneberg auf dem Weg nach Berlin“ und „Handel und Gewerbe“; herausgegeben vom Bezirksamt Schöneberg. Unser Dank geht an das Archiv in der Hauptstr. 40.

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