: Stube außer Kontrolle
Heute urteilt ein Gericht über eine Sexualstraftat bei der Bundeswehr. Das hat es seit der Öffnung aller Einheiten für Frauen noch nicht gegeben
aus München OLIVER HINZ
Verkehrte Welt. In diesem Vergewaltigungsprozess scheint nicht der Angeklagte, sondern sein Vorgesetzter zu leiden. Gleichmütig erträgt der ehemalige Obergefreite Ronny P. (23) seine Gerichtsverhandlung. Kein Wort. Fast regungslos. Nur sein Blick wirkt unsicher.
Hinten im Publikum verzweifelt dagegen Robert Stannecker, Ronnys Zugführer an der Münchner Sanitätsakademie der Bundeswehr, der inzwischen zum Kompaniechef aufstieg. 29 der 35 Verhandlungstage hielt er seinem einstigen Schützling die Treue und kam ins Landgericht. „Das Verfahren ist unfair und ungerecht“, klagt Stannecker. Er kreidet den Richtern unter anderem an, dass sie eine Ortsbesichtigung der Ernst-von-Bergmann-Kaserne ablehnten, in der die Bundeswehrbewerberin von dem Zeitsoldaten vergewaltigt worden sein soll. „Es gibt keinen einzigen Beweis für eine Vergewaltigung“, sagt der 43-Jährige.
„Es kann nichts anderes als Freispruch geben. Wenn es zu einem Schuldspruch kommt, dann verstehe ich nichts von Recht und Unrecht.“ Hier verteidigt sich nicht nur ein Vorgesetzter. Hier spricht die Bundeswehr. Sie ist unter Druck. Wenn die Anklage stimmt, hat sie eine weibliche Bewerberin nicht vor sexueller Gewalt geschützt.
Und vieles spricht dafür, dass das Urteil der Richter über Ronny P. heute Gefängnisstrafe lautet. Es wäre das erste Urteil wegen einer Sexualstraftat seit der Öffnung aller Einheiten der Bundeswehr für Frauen. Der Fall, auf den man gewartet hatte. Frauen im Männerbund, das kann nicht gut gehen.
Die US-Streitkräfte schlagen sich seit Jahren mit Vergewaltigungsskandalen herum. Die Bundeswehr dagegen meinte, die innere Führung der braven deutschen Soldaten sei Schutz genug. Selbstverständlich geht sie auch heute noch davon aus, dass die Vergewaltigung ein „bedauerlicher Einzelfall“ bleibt, parallel zu sehen zu ähnlichen Delikten im Zivilleben.
Falls eine Vergewaltigung überhaupt stattgefunden hat. Wie so oft bei angezeigten Sexualstraftaten sind die Umstände alles andere als eindeutig. Zudem verlief der Prozess, gelinde gesagt, chaotisch.
Der Anwalt des Angeklagten, Hubertus Werner, verscherzte es sich von Anfang an mit dem Gericht. Gleich zu Beginn des Mammutprozesses im Januar schoss Werner gegen sie, stellte Befangenheitsanträge und lieferte sich Wortgefechte. Es gipfelte diese Woche in seinem Plädoyer: „Ich stelle keinen Beweisantrag mehr, weil ich weiß, dass es das Gericht sowieso nicht interessiert.“
Staatsanwältin Stefanie Schwarz und der Opferanwalt, Leonhard Graßmann, verlangen sieben Jahre Gefängnis für den Angeklagten. Ihr Trumpf ist, dass die Bundeswehranwärterin Ronny P. bei einer Gegenüberstellung an der Nase und der Stimme als Täter identifiziert hat.
Ende März 2001 nahm die damals 17-Jährige an einem dreitägigen Aufnahmetest im „Zentrum für Nachwuchsgewinnung Süd“ teil. Sie wollte zur Luftwaffe und blieb wie andere Bewerberinnen zwei Tage länger in der Münchner Kaserne, in der auch Ronnys Sanitätsakademie untergebracht ist. Er soll sie in der letzten Nacht um 0.45 Uhr in ihrem Zimmer im Erdgeschoss überfallen und ihr mit einem Tuch die Augen verbunden haben. Dann verschleppte er sein Opfer laut Staatsanwältin in seine Stube im dritten Stock und quälte und vergewaltigte sie. Nur weil sie angab, dass der Wachhabende um fünf Uhr morgens ihr Zimmer kontrolliere, habe er sie kurz davor laufen lassen.
Kein Zeuge will etwas gesehen oder gehört haben. Soldaten und Mitbewerberinnen sagten aber aus, sie habe ihnen am Morgen danach die Vergewaltigung anvertraut. Doch ein 32 Jahre alter Feldwebel gab die Aussage nicht weiter, weil er selbst jede Nacht mit einer Bewerberin verbracht hatte. Wegen versuchter Strafvereitelung verhängte das Amtsgericht eine Geldbuße von 3.000 Euro.
Es dauerte Tage, bis die Bundeswehr die Ermittlungen in dem Vergewaltigungsfall aufnahm. Zugführer Stannecker vernahm Ronny und kam zu den Schluss, dass dieser nichts mit dem Fall zu tun habe. Er sei offenbar allein in seinem Zimmer gewesen. Im Oktober 2001 stellte die Bundeswehr das Verfahren ein. Das Ganze sei nicht aufzuklären, hieß es.
Es gibt tatsächlich Widersprüche. Ronnys Zimmer war voll gespickt mit 36 Postern. Die Bewerberin sagte aber aus, sie habe keine Poster gesehen oder ertastet. Die zweite Verteidigerin Marianna Theochari fragte: „Sollen wir einer Zeugin glauben, der ihre eigene Mutter nicht geglaubt hat? Ich sage nein.“ Über zehnmal habe das mutmaßliche Opfer seine Mutter und die Polizei belogen. Deshalb sei die heute 18-Jährige unglaubwürdig. Die Staatsanwaltschaft habe ihren Mandanten „wie durch einen Losentscheid“ als Angeklagten ausgesucht.
Der Aufnahmetest im März 2001 veränderte jedenfalls drei Leben. Ronny, unverheirateter Vater einer zweijährigen Tochter, sitzt seither in Untersuchungshaft. Sein mutmaßliches Opfer musste im Prozess auch noch hinnehmen, dass der Verteidiger ihr ganzes Sexleben ausbreitete.
Ihre Mitbewerberin fand hingegen ihren Lebenspartner. Der verurteilte Feldwebel zog mit ihr zusammen. Er verließ seine Frau und die drei Kinder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen