: Das neue Missverständnis: Jungs als „Prügelknaben“
Pisa- und Shell-Studie zeigen: Der „türkischstämmige Migrantensohn aus dem Ghetto“ hat das „katholische Arbeitermädchen vom Lande“ abgelöst. Das Gegenmittel heißt „reflexive Koedukation“
von MARC BÖHMANN
Wir lesen es seit Monaten unaufhörlich: Die wirklich Benachteiligten in Schule und Elternhaus seien die Jungen. Es ist die Rede von „Prügelknaben“, der „Risikogruppe“ und den „armen Jungs“. Nicht mehr das katholische Arbeitermädchen vom Lande symbolisiert die Benachteiligte der Bildungspolitik. Jetzt ist es der türkischstämmige Migrantensohn im städtischen sozialen Brennpunkt. Die Klagen lesen sich wie eine Aufforderung zu kollektivem Mitleid. Feministinnen sind schon ganz aufgeregt – sie vermuten einen Rollback-Versuch der Männer.
Die Debatte um die Geschlechter ist nicht neu – nur hat sie jetzt umgekehrte Vorzeichen. Ist der Anspruch nach einer gezielteren Förderung von Jungen wirklich die Reaktion auf zu viel Feminismus, zu viel Mädchenförderung in Schulen und Elternhäusern? Oder das Wiederaufleben des Biologismus in der Alltagsöffentlichkeit, in der Männer halt nicht zuhören und Frauen schlecht einparken können? Es lohnt, die Fakten zu betrachten.
Mädchen und Jungen unterscheiden sich fast nicht hinsichtlich ihrer kognitiven Voraussetzungen und ihrer Persönlichkeitsprofile. Psychologisch gesichert gilt, dass nur etwa 1 bis 10 Prozent aller Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen mit dem Faktor „biologisches Geschlecht“ zu erklären sind.
Bei den Bildungsabschlüssen liegen mittlerweile die Mädchen in allen allgemein bildenden Schularten vorne. Es erreichen mehr Mädchen als Jungen das Abitur und mehr Jungen müssen sich mit dem Hauptschulabschluss begnügen. Die Schulstudie Pisa hat eindrucksvoll gezeigt: Die Lesekompetenz von 15-jährigen Mädchen ist deutlich besser als die der Jungen – und zwar weltweit. Die so genannte Risikogruppe extrem schlechter Leser besteht zu zwei Dritteln aus Jungen. Nur bei einigen Naturwissenschaften und in Mathematik schneiden Jungen etwas besser ab. Und, was vielleicht noch wichtiger ist: Mädchen lesen wesentlich lieber als Jungen. Die Lesemotivation vieler Jungen ist in etwa zu vergleichen mit der Motivation, am Samstagabend mit Freunden stricken zu gehen.
Seit Jahrzehnten ist eine wichtige Frage, ob Mädchen und Jungen in koedukativen Schulen innerhalb des Unterrichts gleich behandelt werden. Fakt ist: Man weiß dazu nicht genug. Zwar werden einige Studien immer wieder zitiert, nach denen die Jungen mehr Aufmerksamkeit von der Lehrerin bzw. vom Lehrer erhalten und dass dies den Lehrer/innen kaum bewusst ist. Nach neuester Forschungslage gibt es aber allenfalls Tendenzen und keine deutlichen Beweise. Genauso wenig lassen sich Belege für die Benachteiligung von Jungen im Unterricht finden.
Interessant ist sicher dieses: Obwohl die Leistungen der Mädchen in vielen Bereichen besser sind als die von Jungen, findet gerade bei ihnen in der Pubertät ein schleichender Verlust von Selbstvertrauen statt. Wenn Jungen gute Noten bekommen, interpretieren sie das häufig als Bestätigung ihrer Intelligenz. Mädchen betrachten das eher als Mischung aus Fleiß und Glück. Mädchen scheinen dabei nicht einfach ein negativeres Selbstkonzept zu haben, sondern eher ein realistischeres.
Beim Einstieg in den Beruf allerdings hört der Vorsprung der Mädchen auf. Sie müssen zwischen weniger Berufen wählen, und diese Berufe sind häufig mit geringeren Qualifikationen und auch Aufstiegsmöglichkeiten verbunden. Mädchen (und nur sie) planen schon sehr früh eine berufliche Drei-Phasen-Biografie: Berufseinstieg, Elternzeit, Wiedereinstieg auf Teilzeitbasis. Auch in der Familie sind vor allem die Mädchen für gemeinschaftliche Aufgaben zuständig.
Es gibt also kein Lese-Gen, kein Fußball-Gen und kein Puppen-Gen. Was wir unter Geschlechtlichkeit verstehen, ist fast ausnahmslos durch die soziale Umwelt vermittelt. Die Forschung spricht in diesem Zusammenhang vom „doing gender“. Die uns selbstverständlich erscheinende Zweigeschlechtlichkeit ist eine sozial-kulturelle Konstruktion. Wir haben kein Geschlecht, sondern tun es.
Nimmt man die Ergebnisse der Pisa-Studie zur Hand, so muss klar sein, dass wir an einer gezielten Förderung für Jungen in Elternhaus, Kindergarten und Schule nicht vorbeikommen. Die Gesellschaft kann es sich nicht leisten, so viele Kinder und Jugendliche mit so wenigen kognitiven und sozialen Kompetenzen ins Leben zu entlassen. Wer hier den Versuch vermutet, Mädchenförderung, parteiliche Mädchenarbeit und feministische Forschung einzuschränken, macht es sich zu leicht. Alle gesellschaftlichen Institutionen, die sich mit Bildung befassen, müssen Jungen und Mädchen in ihren Gemeinsamkeiten fördern – und in ihrer Unterschiedlichkeit. Es geht darum, das eine zu tun ohne das andere zu lassen. Das Konzept dazu heißt „Reflexive Koedukation“.
Dabei ist es irrig zu glauben, Mädchenförderung ginge automatisch zu Lasten der Jungen. Das beste Beispiel hierfür ist, einzelne Stunden geschlechtergetrennt zu unterrichten. Zahlreiche Versuche in den letzten zwanzig Jahren beweisen: Getrennter Unterricht in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern vermittelt nicht nur Mädchen mehr Kompetenzen und lässt auch berufliche Interessen entstehen. Auch Jungen profitieren von diesen Phasen: Sie müssen sich nicht blamieren, wenn sie mal etwas nicht wissen. Sie können die coole Macker-Verkleidung mal draußen an der Garderobe hängen lassen. Sie spüren, dass es Lernerfahrungen unter ihresgleichen gibt, die nicht davon abhängig sind, ob sie damit die Gunst der Mädchen erringen.
Eine spannende Frage wird sein, ob die Ergebnisse der bisherigen Reformversuche in „Jungenfächern“ auch auf andere Fächer übertragen werden können, vor allem auf solche, die traditionell als typische „Mädchenfächer“ gelten: Fremdsprachen, Biologie, Hauswirtschaftslehre – vor allem aber Deutsch. Die Pisa-Erfahrungen zu Lesekompetenz, aber auch zu Lesemotivation verlangen geradezu danach. Es gibt viele ForscherInnen (immer noch eher Frauen als Männer), die Chancen durch einen phasenweise getrennten Deutschunterricht vermuten. Vielleicht wäre dies ein Weg, der einige stumme, ablehnende Jungs motivieren könnte – damit sie ins Gespräch kommen, damit auch sie lernen, ihre Eindrücke zu emotional aufwühlenden Texten zu äußern.
Die Diskussion darum, wie sich Jungen und Mädchen besser fördern ließen, muss weitergehen. Die feministische Forschung weiß: Mehr Förderung von Mädchen kommt Jungen zugute. Es ist zu vermuten, dass dies umgekehrt ähnlich ist.
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