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Putins patriotische Betäubung

Politiker und Sicherheitsorgane gratulieren sich in Russland gegenseitig zur Antiterroraktion. Auf kritische Fragen jedoch wollen sie nicht antworten

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Auch zwei Tage nach der spektakulären Befreiungsaktion der Moskauer Geiseln steht die russische Hauptstadt noch unter Schock. Scharenweise zogen gestern Menschen zum Ort des Grauens, dem Musicaltheater in der Melnikowastraße im Südosten der Stadt, um Blumen und Fotografien der Opfer vor dem hermetisch abgeschirmten Gebäude niederzulegen. Die Menschen, auch jene, die keine Angehörigen verloren haben, sind nicht nur traurig und betroffen. Sie sind wie benommen.

Und sie sind aus der Benommenheit noch nicht wieder aufgewacht, so wie zig der geretteten Geiseln, die mit Gasvergiftungen in mehreren Moskauer Krankenhäusern liegen. Vor deren Toren haben sich Menschentrauben gebildet, Angehörige versuchen schon den dritten Tag, etwas über den Zustand ihrer Verwandten zu erfahren. Doch das Sicherheitssystem ist unerbittlich.

Russland trauerte gestern offiziell. Und als wollte man den Menschen noch weitere Schmerzen ersparen, verbreiten auch die staatlichen Medien Betäubungsgase. Im Fernsehen laufen ständig patriotische Filme. Zwischendurch gratulieren sich politische Elite und Sicherheitsorgane gegenseitig. Diesmal kann man sich richtig feiern. Nicht einmal aus dem Ausland schallen kakophonische Zwischentöne herüber. Die Antiterrorkoalition steht, wenn auch auf wackligen demokratischen Füßchen.

Gegen zwei Uhr Moskauer Zeit brachte dann der private, im vergangenen Jahr vom Kreml unter Druck gesetzte Sender NTW ein kurzes Interview mit der freigelassenen Geisel Olga Tschuchrina. Der Bericht der Petersburgerin, die vor der Befreiungsaktion in der zweiten Reihe gesessen haben will, lässt aufhorchen. Demnach haben Geiseln und Terroristen den Eintritt des Gases bei vollem Bewusstsein über eine längere Zeit wahrgenommen. Wenn das Terrorkommando es gewollt hätte, wäre noch ausreichend Zeit gewesen, die um den Bauch gebundenen Sprengsätze zu zünden. Damit hätten die Geiseln auch gerechnet, sagte die Zeugin. Sie selbst habe sich noch in eine hintere Reihe setzen können. Die Terroristen seien in Panik ausgebrochen und ziellos im Saal herumgelaufen.

Waren die Terroristen gar nicht entschlossen, mit den Geiseln in den gemeinsamen Tod zu gehen? Waren die Sprengsätze überhaupt scharf? Und warum hatten die meisten Terroristen nur Pistolen der Marke Makarow mit insgesamt zehn Schuss Munition? Sollte damit eine Menge von siebenhundert Geiseln in Schach gehalten werden? Wurden die Attentäter, die wie die Geiseln in Ohnmacht fielen, von den Sicherheitskräften einfach exekutiert? Politiker und Sicherheitsleute halten sich bedeckt. Die Erfahrung lehrt: Auf solche Ungereimtheiten wird es nie eine Antwort geben.

Bis gestern war die Zahl der Todesopfer unter den Geiseln offiziell auf 117 gestiegen. Nur zwei Geiseln erlagen bis dahin einer Schussverletzung, alle anderen starben an den Folgen einer Gasvergiftung. Um welches Gas es sich tatsächlich handelt, darüber wird weiterhin spekuliert. Alles deutet darauf hin, dass die Verantwortlichen auch hier nicht mit der Wahrheit herausrücken wollen. Wohlgemerkt: Die österreichische Botschaft in Moskau gab gestern in einer Pressemitteilung bekannt, dass eine österreichische Staatsbürgerin nicht, wie über russische Medien verbreitet, an einer Lungenentzündung, sondern an einer Gasvergiftung gestorben sei.

Der Kreml ist bemüht, das Ausmaß der Folgeschäden möglichst geheim zu halten. Ein Vorgehen, das an die Zählweise der russischen Gefallenen in Tschetschenien erinnert: Eingang in die Todesstatistik findet nur, wer an Ort und Stelle krepiert.

Ob das Gas lediglich ein Betäubungsmittel war, das gewöhnlich bei medizinischen Eingriffen angewandt wird? Das in diesem Fall tragischerweise durch eine Überdosis bei Kindern, älteren Leuten und Kranken zum Tod führte? Oder setzte der Kreml einen biologischen Kampfstoff ein? Die Spekulationen halten an. Moskaus Chefarzt, Andrej Seltsowski, soll erst kurz vor dem Eingriff am Sonnabend die Konsistenz des Giftes erfahren haben. Er steht indes unter Schweigepflicht.

Der Vorsitzende des Verbandes Chemische Sicherheit, Professor Lew Fjodorow, glaubt anhand der Fernsehbilder erkannt zu haben, dass ein Stoff eingesetzt wurde, der den Gegner nur vorübergehend handlungsunfähig macht. Ein Gas, das auf einer LSD-Substanz basiert, das in den 80er-Jahren im Auftrag des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei von Toxikologen entwickelt wurde, die dafür noch 1989 den Leninpreis erhielten.

Ein Detail, das gestern in der Flut der Nachrichten unterging: Die Iswestija meldete, der FSB habe in Moskau einen Polizisten festgenommen, der dem Terrorkommando vor und während der Geiselnahme geholfen haben soll. Leider passt der Verdächtige nicht in das gängige Feindbild: Er soll slawischer Herkunft sein, also Russe, Weißrusse oder Ukrainer. Auf Anfrage der taz wollten weder der FSB noch das Innenministerium die Information bestätigen, sie dementierten sie aber auch nicht.

Klar ist inzwischen, das Grauen in Moskau hat den Kreml nicht zum Umdenken bewogen. Im Gegenteil, die nach außen erfolgreiche Gewaltaktion nimmt das Zentrum zum Anlass, den militärischen Genozid in Tschetschenien fortzusetzen. Nicht wie in den Medien verbreitet durch eine Großoffensive; dazu ist die Armee gar nicht in der Lage. Sie wird mordend, raubend und niederbrennend durch den Kaukasus ziehen. Russland ist eine übermilitarisierte Gesellschaft, die noch keinen Begriff von anderen Formen der Konfliktlösung besitzt.

So kündigte Präsident Putin an, der Generalstab würde Anweisungen für eine neue militärische Stoßrichtung erhalten: „Wegen der wachsenden Bedrohung durch den internationalen Terrorismus bei der Anwendung von Mitteln, Massenvernichtungswaffen vergleichbar, wird der Generalstab heute Instruktionen erhalten, den Einsatzplan der Streitkräfte zu verändern.“ Was meint Putin damit?

Dass auch amerikanische Medien die Tschetschenen inzwischen als Terroristen bezeichnen, feierte ein Moskauer Washington-Korrespondent wie eine Kapitulationserklärung. Der Kreml wird es ähnlich sehen.

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