: Sinnfrei und matt
Die Union hat den Hegemonialkampf um das moderne Deutschland aufgenommen. Und schon verloren. Denn sie ist isoliert vom säkularisierten, modernen Bürgertum
Parteien haben es in Deutschland gar nicht so leicht, aus ihren Niederlagen zu lernen. Zu unmittelbar folgen der Talsohle tiefer Depressionen die lichteren Höhen des Trostes, ja der machtpolitischen Kompensation (etwa bei Landtagswahlen). Das hemmt und begrenzt den Drang nach Erneuerung und Revision, der sich nach Bundestagsniederlagen zunächst mächtig meldet.
So jedenfalls erlebte man das bei der Union nach 1969 und nach 1998. So könnte es auch jetzt wieder in der CDU kommen. Es ist noch keine zwei Monate her, dass die Union geschlagen aus den Bundestagswahlen hervorkroch. Und doch steht die Partei heute wieder demoskopisch glänzend da, während die rot-grünen Last-Minute-Triumphateure vom September angeschlagen torkeln. Die Versuchung für die Union also ist groß, im eigenen Verein alles beim Alten zu lassen, den Verschleiß des rot-grünen Kabinetts mit kalter Ruhe abzuwarten, ihn höchstens mit einigen kühl kalkulierten Empörungskampagnen zu beschleunigen und am Ende irgendwann die Prämie selbstläufig gewachsener Wähleranteile einzukassieren.
Doch sind sich die christdemokratischen Anführer ihrer Sache diesmal nicht mehr gar so sicher wie noch vier Jahre zuvor. Dass sie erstmals in ihrer Parteigeschichte gleich zweimal hintereinander gegen die einst so chronisch erfolglosen Sozialdemokraten verloren haben, hat die machtbewusste christliche Union nachhaltig schockiert. Überdies haben ihre Wahlkämpfer schon seit Jahren mit beträchtlichem Unbehagen registriert, dass sie nicht mehr so recht in harmonischer Symbiose mit Mitte und Mehrheit der deutschen Gesellschaft leben.
Die CDU hat sich bemerkenswert weit von den meinungsführenden, kulturell prägenden Teilen der deutschen Mitte entfernt, ja entfremdet. In kaum einer anderen von unseren Soziologen und Wahlforschern für wissenschaftliche Zwecke sortierten Gesellschaftsgruppen steht die christliche Union so schlecht da wie bei den so genannten Hochgebildeten; in keiner anderen Gruppe ist Rot-Grün so stark vertreten wie ebendort. Weit über ein Jahrhundert waren die „Gebildeten“ – wie man in Deutschland lange diejenigen mit akademischen Zertifikaten nannte – Hort zunächst der Liberalen, dann der Konservativen. Der säkulare politische Einstellungswechsel in den akademischen Eliten, jener zeitgeistprägenden Klasse kultureller Deuter und Meinungsmultiplikatoren also, gehört zu den einschneidendsten Zäsuren in der Bürgertums-, Gesellschafts- und Politikgeschichte Deutschlands. Eben deshalb erschien die Koalition im Vorfeld der letzten Bundestagswahlen als Avantgarde und politisch kongenialer Ausdruck eines neuen Lebensgefühls einer neuen sozialen Mitte. Eben deshalb wirkte die Union in den letzten Jahren kulturell verstaubt – und verlor gegen Rot-Grün zwei Bundestagswahlen in Folge.
Doch all das soll nach dem Willen der Unionsstrategen künftig ganz anders werden. Die Union hat den Hegemoniekampf um das moderne Deutschland aufgenommen, zumindest hat sie ihn erklärt. Der Anspruch ist zweifelsohne kühn. Denn die Christdemokraten wollen sich den modischen Zeitgeisteinstellungen nicht einfach nur anpassen. Sie wollen vielmehr ihr eigenes Wertesystem in die neue Mitte hineintragen. Auf dem Parteitag verkündete Angela Merkel die neue Zauberformel: „Ich habe keine Angst vor dem Zeitgeist, ich will ihn prägen.“ Das wäre in der Tat eine interessante Alternative zum Schröderianismus der bundesdeutschen Republik, zum ziel- und begründungsindifferenten Pragmatismus, zur situationistischen Gelegenheitspolitik.
Indes hat der Schröderianismus längst vor Schröder begonnen. Mehr noch: Im Grunde ist der Schröderianismus altes christdemokratisches Erbe. Denn schließlich waren auch und gerade die Christdemokraten nie großartige „Präger“. Menschen, gar eine Gesellschaft nach einem fertigen Konzept, einem festen Normensystem, nach einem weltanschaulichen System „prägen“ zu wollen, galt immer als ganz und gar unchristdemokratisch, galt eher als typisch sozialdemokratische Hybris.
Christdemokraten dagegen waren bloße Sprecher der Mehrheitsbefindlichkeit, Spiegel der Lebensgewohnheiten des bundesdeutschen Justemilieus.
Die Bredouille der CDU begann, als sich die bürgerlichen Mitte-Mentalitäten aufsplitterten und konträr auseinander liefen. In den 70er- und 80er-Jahren verließen zunächst die neuakademischen Schichten in großen Teilen das altbürgerliche Lager, wandten sich nach links, orientierten sich vielfach an den Grünen. Und in den 90er-Jahren schieden sich dann die Geister junger, hochagiler, religions-, heimat- und familienloser und nicht selten schneidig neoliberal argumentierender Wirtschaftsbürger von den eher traditionalistischen, frommen, ehetreuen, sesshaften und besitzstandswahrenden Kleinbürgern älteren Stils und älteren Semesters. Seit dieser soziokulturellen Fragmentierung hat die christliche Union kaum mehr eine Chance, die politische Landschaft und die Themen der Republik zu besetzen, sprich: zu prägen.
Wie auch? Für die Wirtschaftseliten in diesem Land müsste die Union nur zum Vorreiter scharfer Deregulierung, unsentimentaler Sozialstaatsminderung, kompromissloser Steuervereinfachung werden. Derart FDPisiert würde die Union die Gesellschaft in der Tat neu und tief umpflügen. Aber natürlich wird das die CDU um nichts in der Welt machen. Denn sie will schließlich Volkspartei bleiben, will weiterhin bei Wahlen mindestens um die 40 Prozent erreichen. Überdies ist die CDU die Partei mit alten Mitgliedern um die 55 und noch älteren Wählern um die 65. Nichts wird vergreiste Parteien in ergrauenden Gesellschaften zu marktradikalem Furor und juvenilem Veränderungsüberschwang verleiten.
Zudem ist die Union nun auch wieder deutlich christlicher geworden. Ihren Zuwachs von drei Prozentpunkten bei den Bundestagswahlen hat sie den gläubigen Katholiken in den süddeutschen Landesteilen zu verdanken. Auch das wird es der Union schwer machen, mit kraftvoller Zielstrebigkeit den neuen Ufern gut gelaunter und großzügiger Toleranz für alle möglichen Lebensarten zuzustreben. Natürlich: das „C“ ordnet nicht die Argumentation, es strukturiert nicht Wege und Ziele der Union, wie die Gentechnologiedebatte frappant deutlich gemacht hat. Das „C“ fundiert allein noch den unverzichtbaren Mythos des „Unionsgedankens“ von 1945, das „C“ sichert die treuesten Wähler, die bei vielen Regionalwahlen mit geringer Wahlbeteiligung ausschlaggebend sind. Nur: Das „C“ trennt die Union zugleich von den säkularisierten, modernen Schichten. Das „C“ hat die Partei in vielen kulturellen Fragen politisch einsam gemacht, da sich mittlerweile ganze bürgerliche Lebenswelten von den kirchlichen Moralvorstellungen abgekoppelt haben.
Gewiss: Mit ihrem „C“ könnte die CDU in der entideologisierten Welt zwar eindeutig und scharf prägen, aber eben nur in Minoritäten – und daran denkt die Union natürlich nicht im Ernst. Normativen Ersatz indessen für das traditionell Christliche als kulturelle Norm und politische Maxime in der nachchristlichen Gesellschaft hat sie nicht gefunden, hat danach in den letzten Jahren nicht einmal gesucht. Die Entspiritualisierung, die konzeptionelle Entleerung der Politik hat eben nicht nur bei den Sozialdemokraten stattgefunden; es gibt sie länger schon bei der Union.
So hat also die Union nicht den Stoff, nicht den kristallinharten Überzeugungskern, ja nicht einmal das Personal, um das Lebensgefühl, die Kultur, die Politik der Gesellschaft zu prägen. Überhaupt: Prägungen entstehen sowieso nur als Produkte harter Konflikte und scharfer Kontroversen. Parteien aber scheuen längst die Unwägbarkeiten solcher Auseinandersetzungen, bilden demzufolge nicht mehr das Sozialkapital für ideellen, Sinn stiftenden „Prägestoff“. Daher wird der verkündete geistig-kulturelle Hegemonialkampf der CDU auch diesmal wieder ausfallen. Sicher: Irgendwann in den nächsten Jahren wird die CDU ins Kanzleramt einziehen. Doch wird dann damit nicht ein sozialdemokratisches Jahrhundert beendet, wird dadurch nicht der Beginn eines neuen christdemokratischen Zeitalters begründet. Es ist alles weit trivialer: Bei künftigen Regierungswechseln wird allein die ganz besonders entkräftete und entleerte Partei durch die noch nicht ganz so ermattete Partei ersetzt. Darin wird es sich erschöpfen. Und eben das ist das Problem dieser Republik. FRANZ WALTER
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