piwik no script img

taz-adventskalender „24 stunden“ (5)5 Uhr in der S-Bahn

So früh am Morgen fahren häufig die gleichen Leute mit der S-Bahn. Meist wird geschwiegen. Es passiert wenig. Nur manchmal muss sich jemand übergeben.

Die S-Bahn hat mitunter ihre (optischen) Reize, hier an der Jannowitzbrücke in einer Langzeitbelichtung Foto: picture alliance/dpa/Paul Zinken

Stressig und chillig, hässlich und schön, herzerwärmend und abstoßend: Berlin hat viele Seiten, rund um die Uhr. In diesem Advent hangeln wir uns durch 24 Stunden Hauptstadtleben und verstecken jeden Tag aufs Neue 60 Minuten Berlin hinter unserem taz-berlin-Kalendertürchen. Heute: ab 5 Uhr in der S-Bahn von Friedrichshain nach Grünau.

Fünf Minuten nach 5 verlasse ich das Haus und gehe ein paar Minuten zur S-Bahn. Ich fahre von Friedrichshain nach Grünau, dort arbeite ich in einem Krankenhaus. Meist nehme ich die Bahn, manchmal auch das Fahrrad, damit brauche ich rund eine Stunde. Mit der S-Bahn bin schon ich in einer halben Stunde da. Um 5.15 Uhr sitze ich in der Bahn. Das mache ich seit mehr als 20 Jahren so. In Grünau angekommen, brauche ich noch ein paar Minuten zu Fuß bis zum Krankenhaus.

Weil ich immer zur gleichen Uhrzeit vom selben Bahnhof abfahre, sehe ich auch häufig die gleichen Leute, die wie ich zur gleichen Zeit zur Arbeit losmüssen. Am frühen Morgen sitzen alle allein in einem Vierer, da ist so wenig los, dass jeder ungestört vor sich hinstarren kann.

Alle ziehen einen Flunsch, gucken mürrisch. Es scheint, als ob die meisten Menschen so früh am Morgen nicht gern mit der Bahn fahren. Mir macht das nichts aus. Ich stehe gern früh auf. Ich habe meine Kopfhörer drin, höre ein schönes Lied und schmunzel vor mich hin. Die Leute schauen irritiert: Wie kann der gute Laune haben?

Es ist total ruhig im Abteil

Die meisten Mitfahrenden dösen gar nicht, wie man meinen sollte. Eher selten haben sie die Augen zu. Viele sitzen wie ich mit Kopfhörern da. Es ist total ruhig im Abteil, niemand unterhält sich. Gelesen wird wenig morgens um 5, zumindest kein Buch oder keine Zeitung. Vereinzelt ist jemand mit der B.Z. zu sehen, mit der taz leider niemand. Die meisten haben eh das Handy in der Hand.

In letzter Zeit sehe ich viele junge Menschen, mehr als früher, die mit mir Richtung Grünau fahren. Die steigen dann in Johannisthal aus, dem früheren Betriebshof Schöneweide, weil die Bahn dort ein Werk hat. Das dürften Auszubildende sein. Dann sind noch die, die im Technologiepark Adlershof arbeiten und dort aussteigen.

Nach Grünau fahren zu der Uhrzeit – abgesehen von mir – auch die Angestellten von Möbel Höffner, die erkennt man an ihren Uniformen. Auch viele ausländische Bauarbeiter sind Frühaufsteher – wie ich – und auf dem Weg zu ihren Baustellen. Früher fuhren sie zum BER, wo sie ausgebeutet wurden – heute werden sie woanders ausgebeutet.

In der Regel ist die Bahn morgens pünktlich. Bevor ich losgehe, checke ich immer die BVG-App. Ärgerlich ist vor allem, wenn die Bahn überraschend ausfällt, obwohl sie laut App eigentlich pünktlich fährt. Dann heißt es: warten. Im Sommer mag das noch gehen, aber jetzt ist es besonders ätzend, es ist einfach schon zu kalt. Wie in dem Witz aus DDR-Tagen. Die S-Bahn hat nur vier Feinde: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Passt heute leider noch immer.

Alle schauen weg

Es gibt S-Bahn-Stationen, die sind auch so früh am Morgen große Umsteigepunkte, Ostkreuz zum Beispiel. Hier merkt man, dass der in einer Partyzone liegt. Da steigen auch Leute nach 5 Uhr ein, die nach einer durchzechten Partynacht kaum noch geradeaus gucken, geschweige denn geradeaus gehen können. Wie letztens ein junger Mann an einem Freitagmorgen. Kommt rein, bleibt in der Tür stehen, dreht sich und kotzt die ganze gegenüberliegende Tür voll. Und dann: Nichts. Niemand sagt etwas, alle schauen weg und versuchen, möglichst viel Abstand zu gewinnen. Oder wechseln beim nächsten Halt den Waggon.

Musikanten oder bettelnde oder die Obdachlosenzeitung verkaufende Menschen sind so früh nicht unterwegs. Und es gibt immer mal Obdachlose, die in der S-Bahn liegen und schlafen, die einfach die ganze Zeit hin und her fahren. Die stören mich nicht. Nur wird dann manchmal der Waggon beim nächsten Halt wieder leerer, weil die Zugestiegenen erst nach und nach den meist unangenehmen Geruch, den die Personen verströmen, wahrnehmen. Kontrollen gibt es so früh eher selten. Und nette Begebenheiten? Die gibt es leider auch so gut wie nie.

Meine größte Waffe ist die Freundlichkeit. Auch morgens um 5. Immer alle anlächeln, zur Musik mit dem Fuß wippen, vor sich hin schmunzeln … Probieren Sie es doch auch mal mit einem Lächeln morgens früh um 5.

Patrick Hermann, Krankenhausmitarbeiter; Protokoll: Andreas Hergeth

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Okay, ich probiere es auch mal mit dem Lächeln am frühen Morgen. :o)