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taz Talk mit Soziologe Steffen MauWarum der Osten anders bleibt

„Ungleich vereint“ heißt der neue Bestseller des Soziologen Steffen Mau. Ein Gespräch über Fehler bei der Wiedervereinigung und Meckerer in Görlitz.

Perleberg 1990 – „Aufbau-Ost war Nachbau-West“ meint Steffen Mau Foto: Paul Glaser

„Eigentlich wollte ich gar nicht so schnell wieder ein Buch schreiben“, gibt Steffen Mau zu, gerade eben hatte er mit Kollegen die Studie zu „Triggerpunkten“ veröffentlicht. Doch das neue Buch wurde ihm vom Verlag nahegelegt – womöglich, weil seine Kenntnis angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen im Osten so gefragt ist wie selten zuvor: Steffen Mau, aufgewachsen im Norden der DDR, gilt als Ostexperte.

Montagabend beantwortete der Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin in der voll besetzten taz Kantine rund zwei Stunden lang Fragen von taz-Redakteur Jan Feddersen und Publikum. Es geht um sein neues Buch „Ungleich vereint – Warum der Osten anders bleibt“ – schon jetzt ein Bestseller, das Buch der Stunde für alle, die wissen möchten, warum es im „Osten“ anders tickt als im „Westen“.

Gleich zu Beginn verdeutlicht Mau, dass es aus soziologischer Perspektive höchst unwahrscheinlich sei, dass sich der Osten im Laufe der Zeit an den Westen angleichen werde. Wie schon der Titel des Buches verrät, werde der Osten aufgrund der Erfahrungen in der DDR und in den Wendejahren immer anders bleiben: seine Ökonomie, seine Politik, seine Menschen.

Mau zieht in diesem Zusammenhang einen Vergleich zu Italien, Frankreich, sogar Schweden: Überall dort seien je nach Region starke kulturelle und historische Unterschiede zu spüren. Warum also Ost- und Westdeutschland unbedingt auf einen gemeinsamen Nenner bringen wollen? Wichtiger sei es, ihre Differenzen verstehen zu lernen. Und zu erkennen, dass bei der Wiedervereinigung so einiges schiefgelaufen ist – eine Geschichte der Entwertungen, der Zurückweisungen, des Überhörens von im Osten gewonnenen Erfahrungen.

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Der Westen wurde im Osten nachgebaut

Bis heute ist Westdeutschland im Vergleich wohlständiger, Ostdeutschland hingegen eine einfache Arbeitnehmergesellschaft. „Die reichsten Ostdeutschen sind Westdeutsche“, erklärt Mau, und erinnert sich an Geschichten, die noch immer in seiner Heimat Rostock kursieren: All diejenigen, die in den Neunzigern Verantwortung trugen – der Polizei-Chef, der Landesminister für Inneres – kamen aus westdeutschen Städten wie Bremen oder Hamburg.

Rückbleiber sind häufig frustriert, wenn sie merken: Die jungen, talentierten Menschen gehen weg und wir bleiben zurück

Steffen Mau, Ostexperte

Neben diesen sogenannten Transfereliten benennt er das Problem des „Fertigstaats“, der im Osten ganz einfach implementiert wurde. „Aufbau-Ost war Nachbau-West“, was laut Mau zu massiven Problemen im Osten führte. Denn während die Demokratie im Westen ein sehr erfolgreiches Modell war, ging im Osten ein enormer ökonomischer Niedergang mit ihr einher. 80 Prozent aller Familien mussten in den Jahren 1990 bis 1994 Erfahrungen der Langzeitarbeitslosigkeit machen.

Aber: „Woher kommt beispielsweise diese Vermeckertheit in Görlitz?“, will der Moderator wissen, eine akkurat sanierte Stadt an der Neiße und doch von tiefer Unzufriedenheit der Bevölkerung geprägt. Nicht nur Mau hat darauf eine Antwort parat. „Wegen den Westrentnern, die dort hinziehen“, kommt aus dem Publikum, und: „Ganz einfach, weil da die jungen Frauen fehlen.“

Ostwahlen 2024

Dieser Text ist Teil unserer Berichterstattung zu den Wahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Die taz zeigt, was hier in diesem Jahr auf dem Spiel steht.

Steffen Mau formuliert anschließend etwas präziser: „Ein Thema, das oft unterbelichtet ist, ist die demografische Veränderung in Ostdeutschland. Rückbleiber sind häufig frustriert, wenn sie merken: Die jungen, talentierten Menschen gehen weg und wir bleiben zurück.“

Schrumpfgesellschaften seien geprägt von Angst und tun deshalb das Gegenteil von dem, was notwendig wäre: Sie setzen stark auf Homogenität und sind intolerant gegenüber anderen. Hinzu kommt das allgemeine Misstrauen gegenüber Parteien und fehlende vorpolitische Räume. Wo sollen die Leute denn ihre Bedürfnisse, ihre Wut abladen? Steffen Mau plädiert für neue demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten. Beispielsweise Bürgerräte, über die sich die Menschen stärker am politischen Geschehen beteiligen können. 35 Prozent der Ostdeutschen sind Nichtwähler:innen.

Eine „unglaublich gefährliche Entwicklung“ nennt Mau die Erstarkung rechtsextremer Ak­teu­r:in­nen im Osten. Rassistische, chauvinistische Einstellungen, viel Unzufriedenheit, Altersressentiment, all das werde nun von der AfD eingefangen.

Und wenn AfD-Anhänger:innen den Alltag bestimmen, kann eine sogenannte Brandmauer nicht ohne Weiteres aufrechterhalten werden? Zumal, anders als im Parlament oft möglich, in Bürgerräten AfD-Haltungen und -Akteur:innen nicht herausgefiltert werden können: „Ich kann mir vorstellen, dass sie irgendwann zur rhetorischen Leerformel wird.“

Hinweis: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, Görlitz liege an der Oder. In Wahrheit liegt die Stadt an der Neiße. Wir haben den Fehler korrigiert.

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8 Kommentare

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  • Die Enttäuschung war gegenseitig und ist vielleicht auch typisch deutsch. Im Westen desillusionierten bei denjenigen, die vielleicht darauf hofften, dass sich in der ehemaligen DDR politisch was anderes, interessantes tun würde, bald schon die "Helmut, Helmut, wir wollen die D-Mark-Rufe" vieler DDR-ler. Und im Osten war das Begehren doch groß, bald alles zu haben, was es eben im Westen vor allem an Waren und Freiheiten gab, ohne eben die Schattenseiten des Kapitalismus wahrhaben zu wollen.

  • Die Gefahr aus dem Osten: wenn Wagenknecht bei den Landtagswahlen abräumt, bekommen wir eine Kanzlerkandidatin Wagenknecht. Die eignet sich noch besser als Projektionsfläche als Habeck.

  • Anders ist der Westen.



    Und der Süden.



    Und der Norden.

    Natürlich wurde die B-Klasse aus Bayern nach Sachsen mit 'Buschzulage' geschickt, und merkt man das ungut noch heute. Doch das wussten wir schon vor dem hier.

  • Danke liebe TAZ, das ihr darauf hinweist, das der Verlag den Autor " gebeten" hat ein weiteres Buch zum Thema Ost/West zu veröffentlichen. Jutet Thema, mit dem man Kohle machen kann!



    Ist ja berechtigt, ein Verlag ist auch nur ein Wirtschaftsunternehmen. Nun hab ich mal erfahren, daß jedes 2. Buch das in Deutschland erscheint, irgendeine wirtschaftliche Förderung erhält, aber egal.



    Also, noch ein Buch mehr zu einem Thema, dass doch jedem bewusst ist. Die Bayern sind anders als die Ruhrgebietler, als die Küstenbewohner als die Sachsen.



    Dazu eine Prise AfD und ein paar graue Bilder mit Trabbis und schon sind wieder alle Vorurteile gut zusammengefasst und vom"Ostexperten" zusammengeschrieben.



    Schade um die Rohstoffe die zur Herstellung verschwendet wurden.



    Mit großer Wahrscheinlichkeit lieg ein Grossteil der Auflage in 6 Monaten auf der Resterampe ihres Buchladens.

  • 6G
    615049 (Profil gelöscht)

    Da könnte man sich mal mit der König-Drosselbart-Frage befassen:Wem gehören die Häuser (und Firmen) in Görlitz (und anderswo)? Den ostdeutschen Görlitzern ganz sicher nicht.



    Und diese Frage kann man für den gesamten Osten durchdeklinieren.

    Die Regierung Kohl hat noch zu DDR-Zeiten völkerrechtswidrig massiv in die DDR-Verhältnisse eingegriffen. Innerhalb kürzester Zeit gab es flächendeckend nur noch Westmedien. Man könnte und sollte das durchaus mit Entmündigung benennen. Ostdeutsche Sichten fanden keinen Weg in die Öffentlichkeit. Den Rest erledigte die sehr viel produktivere Industrie der BRD. Die fünf Statthalter dürften auch der taz bekannt sein. Die taten das ihre.

    Man muss nach 34 Jahren (längst überflüssigerweise) also nochmal feststellen, dass die aktuellen ostdeutschen Verhältnisse von Westdeutschen herbeiregiert wurden. Klaus Wolfram fand in seiner Akademie-Rede einen hübschen Satz dafür:Der Westen ist im Selbstgespräch über den Osten.



    Das hatte und hat die bekannten Folgen.



    Ist jemand dafür verantwortlich? Natürlich nicht. Wäre ja noch schöner.

    • @615049 (Profil gelöscht):

      Sie tun so, als hätte "der Westen" den "Osten" widerrechtlich besetzt. Ich erinnere mich noch an die Sprechchöre "Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, kommen wir zu ihr!" und "Helmut, rette uns!" und hohe CDU-Wahlsiege in den neuen Bundesländern. Ich zitiere mal: "Ist jemand dafür verantwortlich? Natürlich nicht. Wäre ja noch schöner."

      • 6G
        615049 (Profil gelöscht)
        @Volker Scheunert:

        Seit wann erlangen irgendwelche Sprüche der Straße im Rechtsstaat Rechtskraft? Das ist ja nun ganz was Neues.

        Ansonsten stimmt es ja leider, dass die Mehrheit in der DDR die D-Mark sofort wollte.

        Ich werde und kann Ihnen das hier nicht zum 80sten Mal alles erklären.

        Aber es ist völlig normal, dass Sie nicht auf die erwähnten Eigentumstransfers und die Besetzung der Führungspositionen eingehen. Märkte bis nach Wladiwostok waren für den Westen plötzlich erreichbar.

        Es wäre immer noch Dankbarkeit den Ostdeutschen gegenüber angebracht. Stattdessen Hohn und Arroganz. 34 Jahre nach dem Mauerfall.



        Und:Es scheint immer noch nicht so reccht bekannt zu sein. KEIN Denkmal für den Mauerfall bzw. "Vereinigung". Das sagt schon sehr, sehr viel.

      • @Volker Scheunert:

        Der Osten wurde widerrechtlich besetzt. Am Anfang war auch die Losung “ wir sind das Volk” selbstbestimmt ausgerufen. Das wollte der Westen nicht. In den Wahlkampf wurde massivst eingegriffen. Horrorszenarien wurden aufgebaut : wenn die D Mark nicht kommt und der Westen “ hilft” dann geht das Land unter.



        Und wenn sie schreiben “ ist jemand verantwortlich….natürlich nicht..” kann ich nur wiedergeben: der Westen hört einfach nicht auf zu siegen ;) und sollte anfangen ,Bücher über seinen Untergang zu schreiben. Der Ostler ist Untergangserfahren und sieht deshalb durch