taz-Serie Marzahn-Hellersdorf: Die Freiheit im siebten Stock

Am 8. Juli 1977 wurde die erste Platte in der Großsiedlung Marzahn gesetzt. Brigitte und Günther Klich gehörten zu den Ersten, die eine Wohnung im Plattenbau bezogen.

Brigitte und Günther Klich in ihrer Wohnung im 7. Stock eines Hochhauses in Marzahn Foto: Sebastian Wells

Günther Klich steht auf seinem Balkon im 7. Stock eines Hochhauses in der Poelchaustraße in Marzahn. Der weite Blick nach Süden: Zehngeschosser. Die glitzernden Kronen großer Pappeln. Himmel, viel Himmel. Aber über die schöne Aussicht hat Günther Klich schon oft gesprochen.

Lieber plaudert der 70-jährige Mann mit dem lässigen dunklen Blouson überm dunklen T-Shirt von seinem Efeu. Den hat er hier schon vor Jahren gepflanzt. Oft heißt es, der Efeu bringt Insekten und Vögel und Dreck, oder der Efeu zerfrisst die Fassaden. Doch das ist Günther Klich egal. Erstens, weil er es besser weiß. Und zweitens, weil er und seine Frau Brigitte Klich seit fast 40 Jahren in dieser Wohnung leben. Sollte wirklich einmal eine Beschwerde laut werden, so würde sie das nicht aus der Ruhe bringen.

„In der DDR waren Mieter quasi Eigentümer“, mischt sich Günther Klichs Ehefrau Brigitte aus dem Wohnzimmer ins Gespräch ein. Ihr weißer Bubikopf wirkt mondän, ihre weite Leinenhose elegant. „Wer einmal eine Wohnung hatte, der war auf Dauer versorgt“, lächelt sie schelmisch.

Brigitte und Günther Klich wohnen seit 1979 in Marzahn. Damit gehören sie zu den sogenannten Erstbeziehern dieses Bezirks mit der größten Siedlung in industrieller Plattenbauweise auf dem Gebiet der DDR. Über 4.000 Wohnungen entstanden 1977 und 1978 allein am Springpfuhl, dem ältesten Teil der Großsiedlung, wo die Klichs wohnen. 4.000 Wohnungen für alle, mit ähnlich großen Zimmern, ähnlich großen Küchen und ähnlich kleinen Quadratmeterpreisen.

Immer gern hier gewohnt

Das waren Wohnungen, in denen es schwer war zu repräsentieren. Wohnungen, in denen man kaum eine Chance hatte, sich hervorzutun.

Anders als die Bewohner sozialen Wohnungsbaus im Westen, die sich oft eher abgeschoben fühlten, heißt es von den Erstbeziehern in Marzahn, sie hätten hier alles mitgestaltet. Sie hätten immer gern hier gewohnt. Zu DDR-Zeiten sowieso, aber auch noch nach der Wende, als der Bezirk immer leerer wurde und die Presse Marzahn als „Vorstadthölle“ beschrieb.

Und in letzter Zeit, wo der Bezirk dank Internationaler Gartenbauausstellung – kurz IGA – und steigender Mieten in der Innenstadt wieder aufgewertet wird, heißt es, atmen diese Erstbezieher auf. Selbst wenn viele nach Marzahn ziehen, die neue Probleme mit sich bringen. In keinem anderen Bezirk außer Treptow-Köpenick schnitt die AfD bei den letzten Berlin-Wahlen besser ab. Nirgends wurden mehr Gewalttaten mit rechtsradikalem Hintergrund gezählt, seit die Flüchtlinge kamen.

Wie aber steht es mit den Klichs?

Schon, wer deren Wohnung betritt, spürt, dass die Menschen, die sich hier eingerichtet haben, viel übers Wohnen nachgedacht haben. Keine Aneinanderreihung von kleinen Buchten, die man sich unter Wohnen in der Platte vorstellen mag, sondern tiefes Durchatmen. Weiße Wände, schlichte Möbel aus Holz und Leder. Kein Schnickschnack, keine Trockenblumen, dafür geschätzt 5.000 Bücher in Regalen. Bücher zum Lesen, nicht zum Vorzeigen. Bücher mit angestoßenen Ecken, mit abgegriffenen Umschlägen. Bildbände. Literatur aus der DDR. Auch Neuerscheinungen wie der dicke Roman von Frank Witzel, der den Deutschen Buchpreis gewonnen hat.

Gewachsene Nachbarschaft

Günther Klich setzt sich an den Sofatisch, die 69-jährige Brigitte Klich nimmt im Schneidersitz auf dem Lehnstuhl Platz. Der Schock, als sie die Besichtigungskarte für die Wohnung in Marzahn bekamen, war groß, erzählt sie. Sie mochten Mitte so gern. Die Nachbarschaft war gewachsen, wie bei Zille. Von der Müllerin bekamen sie den Schrank, vom Schreiner im Hinterhof ließen sie sich die Türen für die neue Wohnung machen. Die Schüssel für warmes Wasser und die für kaltes auf der Küchenbank, auch das Außenklo und die vereisten Leitungen im Winter machten ihnen nichts aus.

In Marzahn dagegen: Da gab es am Anfang kaum Busse, wenige Einkaufsmöglichkeiten und Bohlen über den Schlamm statt Straßen und Bürgersteige. Und die Tochter, die damals schon 12 Jahre alt war, musste einmal die Woche zur Pantomime nach Mitte und abends wieder zurück. Für die Tochter ist Marzahn immer das Ende der Welt geblieben, sagt Brigitte Klich. Heute lebt sie im Süddeutschen und trifft die Eltern lieber irgendwo in der Stadt als in der Marzahner Wohnung.

Und doch. Irgendwann wurde Marzahn eine Heimat für die Klichs. Denn auch sie haben Ende der 1970er mitgearbeitet. Sie wohnen hier in einer Genossenschaftswohnung, mussten etwas Geld einzahlen und den Rest erarbeiten. Manche nannten das „Muskelhypothek“. Heute zahlen die Klichs nur etwas mehr als 500 Euro Miete im Monat.

„Die Klichs hätten das Haus der Eltern bei Potsdam haben können. Sie wollten es nicht. Sie wollten frei sein“

Günther Klich erzählt gern davon, wie er zu den Arbeitseinsätzen musste, in den Baugruben Kabel vergraben, und auf welche Schwierigkeiten er stieß, als er begann, die Arbeitseinsätze selbst zu leiten. „Mutlos durfte man nicht sein“, sagt er.

Nie mehr zurück nach Mitte

Auch Brigitte Klich erinnert sich gern: An die Besichtigungen auf dem Bauplatz, an die Spaziergänge, als noch nicht alles voller Häuser war, als man rund ums Viertel noch große Feldblumensträuße pflücken konnte.

Die Altbauwohnung in Mitte: Sie waren darin glücklich. Sie fahren noch oft in ihre alte Heimat, schauen sich Flohmärkte und Friedhöfe an, gehen in den gut sortierten Buchhandlungen und eleganten Kleidergeschäften einkaufen. Aber da wohnen? Die Klichs würden heute nicht einmal mehr zurück nach Mitte ziehen, wenn ihnen jemand dort eine Wohnung schenken würde. Sie haben in Marzahn zu sich selbst gefunden.

Und das alles wegen ein paar Feldblumensträußen, die man heute gar nicht mehr pflücken kann?

Man muss aber noch ein Stück weiter zurückgehen, wenn man verstehen will, wie frisch sich Marzahn einmal angefühlt haben muss für viele – und auch für das Ehepaar Klich.

Die beiden entschuldigen sich kurz und kommen mit kleinen Tellern zurück. Es gibt Pumpernickel mit gutem Käse und scharfe Gürkchen für alle, denn das, was jetzt kommt, wird ein bisschen dauern.

Fluchtgeschichten

Wie viele ihrer Generation sind auch die Klichs von Fluchtgeschichten geprägt. Brigitte Klichs Mutter kam in den 1920er-Jahren aus Schlesien und als der Mann im Zweiten Weltkrieg fiel, da musste sie die beiden Söhne allein durch bekommen, als ungelernte Putzfrau. Dann die Beziehung zum russischen Offizier, der 1948 abgezogen wurde und seine Tochter Brigitte nie kennenlernen sollte. Die Einraumwohnung in der Ackerstraße, in der sie zu viert wohnten. Die Ausbildung Brigittes zur Schneiderin für Blusen, die sie nicht wollte.

Der Bezirk: Marzahn-Hellersdorf hat rund 262.000 Einwohner und entstand 2001 durch die Fusion der Bezirke Marzahn und Hellersdorf. Hier befindet sich die größte Großsiedlung, die in industrieller Plattenbauweise in der DDR errichtet wurde. Nach der Wende erfuhr der Bezirk Abwanderung und Abwertung. In den letzten Jahren zogen so viele Menschen dorthin wie seit DDR-Zeiten nicht mehr. Heute sind hier allerdings Wohnungen so schwer wie in ganz Berlin zu finden.

Die Serie: Seit April bringt die Internationale Gartenausstellung (IGA) – gerade ist Halbzeit, sie läuft noch bis Mitte Oktober –, viele Besucher nach Marzahn-Hellersdorf. Zeit für die taz, den Wandel im Bezirk mit einer Serie unter die Lupe zu nehmen. (taz)

Auch Günther Klichs Eltern verließen Schlesien, er Zimmermann, sie Bäuerin, mit eigenem Grund und Boden dort. Dann der Krieg und die Flucht nach Potsdam, wo es Verwandte gab. Zunächst wohnten sie im Zirkuswagen. „Wenn wir nachts pinkeln gingen, machten die Ratten Männchen“, lacht er. Dann kauften sie bei Potsdam ein großes Haus mit 50 Obstbäumen. Die Eltern zahlten das Haus mit der Ernte ab.

Es hat sich ihm eingebrannt, dass sie immer „Fremdlinge“ geblieben sind. Fremdlinge noch dazu, die sich so schnell ein eigenes Haus kaufen konnten.

Zimmer mit Ausblick, seit 1979: die Klichs haben es sich schön gemacht Foto: Sebastian Wells

Kurz nachdem sich die beiden kennengelernt hatten, sie 18 und er 19 Jahre alt, begannen sie, sich in ein anderes Leben hineinzuarbeiten. Bei ihr war es zuerst die Stelle in einer Bibliothek, dann eine Fortbildung, das „geliebte Studium“, Bibliothekswissenschaft. Ein Fernstudium mit gelegentlichen Ausflügen nach Leipzig, vor allem aber „lesen, lesen, lesen“. 1979 übernahm sie die Leitung der Bibliothek an der Kunsthochschule Weißensee. Dort blieb sie bis zum Ruhestand, bis 2008. Ein Traumjob, sagt sie bis heute.

Traum von der Gleichheit

Auch er hat viel erreicht: Die Lehre im Chemiekombinat Leuna, danach bis zum Abteilungsleiter im Forschungsbereich des VEB Berlin Kosmetik.

Die DDR hat den Klichs viel ermöglicht. Auch fanden sie den Traum von der Gleichheit schön, der nie Wirklichkeit wurde. Aber in die Partei sind sie trotzdem nie eingetreten. Brigitte Klich hätte den Kontakt zum Bruder abbrechen müssen, der nach Kanada ausgewandert war. Ein Staat, der sich derart in die Privatangelegenheiten seiner Bürger mischt, er hätte nicht der Staat der Klichs werden können.

Anders als viele in ihrer Generation, die an der Wende zerbrochen sind, erinnern sich die Klichs wohl auch deshalb gern an diese turbulente Zeit, als die DDR zu Ende ging. Sie sind beweglich geblieben, so, wie sie immer beweglich waren.

Brigitte Klich schwärmt vom Bestandsaufbau in ihrer Bibliothek nach 1989, als sie plötzlich gutes Geld für neue Bücher zur Verfügung hatte, die sie dann in einem Buchladen in Charlottenburg ausgab. Günther Klich wundert sich noch heute, dass er nach der Abwicklung des alten Betriebs noch einmal ein Fernstudium wagte, erst Betriebswirtschaft, danach Steuerrecht, dann Steuerberatung in einem Büro, später Selbständigkeit. „Wir haben die Freiheit nach der Wende aus vollen Zügen genossen“, sagen beide Klichs heute.

Eine Geschichte der Emanzipation

Die Klichs haben die Fluchtgeschichten der Eltern noch in den Knochen. Dieses Gefühl, das ihre Eltern gehabt haben müssen, als sie merkten: Ihre Ankunft war von vielen um sie herum nicht gerade erwünscht. Was empfinden da die Klichs, wenn heute wie damals in Marzahn Menschen versuchen anzukommen, Menschen aus Syrien oder Afghanistan?

Günther Klich, der höfliche Mann mit viel Haltung, zögert keinen Moment, als er sagt: „Hier hat sich zum Glück keiner aus dem Fenster gelehnt, als die gegen die Flüchtlingsheime demonstriert haben.“

Die Klichs mögen keine Leute, die sich die Welt aus Vorurteilen zusammen zimmern. Sie halten es lieber weiterhin mit der Neugier, mit der sie ihr ganzes Leben angegangen sind. Geholfen haben sie den Flüchtlingen bis jetzt zwar nicht. Aber sie finden die Leute freundlich und zurückhaltend und begegnen ihnen mit derselben Freundlichkeit und Zurückhaltung.

Die Geschichte der Klichs ist die einer Emanzipation. Von alten dunklen Wohnungen, wie sie arme Leute um die Jahrhundertwende bewohnten, aber auch von alten Einfamilienhäusern mit großen Gärten, von denen arme Leuten um die Jahrhundertwende träumten. Die Klichs hätten das Haus der Eltern bei Potsdam haben können, als sie es verkauften. Sie wollten es nicht. „Wir wollten frei sein“, sagensie.

Wie ein weißes Blatt Papier

Frei von den Geschichten, die auch deshalb an einem kleben, weil alles um einen herum immer wieder diese Geschichten erzählt.

Marzahn dagegen erzählte noch keine Geschichten. Keine Geschichten von oben und unten, keine Geschichten von fremd und vertraut. Es muss auf die Klichs eher wie ein weißes Blatt Papier gewirkt haben.

Die Luft, das Licht und die karge Wohnung der Klichs: All das passt sehr gut zu ihnen. Sie konnten sich hier entfalten.

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