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taz-Serie „Damals bei uns daheim“Die stille Zeit

Uli Hannemann
Kolumne
von Uli Hannemann

Weihnachten war in unserem Stiefzuhause eine Fortsetzung des zweiten Weltkriegs – mit den Waffen der schwarzen Pädagogik.

Um fünfzehn Uhr ging es zur Christmesse in die Kirche Foto: dpa

S ie nannten es „die stille Zeit“: Stiefmutter schrie uns nur noch mit sieben Achteln der üblichen Lautstärke an. Auch die tägliche Tracht Prügel von Stiefvater wirkte, wenngleich nicht in der Wucht, so doch in ihrer Intention irgendwie sanftmütiger als sonst, geradezu melancholisch.

Einem unbeteiligten Beobachter wäre wohl das Bild eines Bauern in den Sinn gekommen, der gewissenhaft und gottesfürchtig das Korn drischt.

Nur leider waren wir Stiefkinder nicht unbeteiligt. Und so schwebte uns nichts anderes vor, als der Wunsch, dass die unbeschreibliche Gewaltorgie endlich enden möge, damit wir unsere Platzwunden stillen konnten. Sonst hätte es die nächste Tracht von Stiefmutter gegeben, weil wir den Teppich mit Blut „vollferkelten“.

Im Grunde war Weihnachten in unserem Stiefzuhause eine Fortsetzung des zweiten Weltkriegs, nur anstelle von Panzern und Bomben mit den Waffen der schwarzen Pädagogik. Die man damals nicht so nannte – dazu hätte es schließlich erst mal eine weiße geben müssen. Man erzog halt die Stiefkinder und wenn eines dabei starb, machte man ein neues. Es war nicht so wie heute, da Kinder nach dem Raubmord an einer Rentnerin obendrein noch beschenkt und belobigt werden.

Singen, Beten, Maulhalten

Um fünfzehn Uhr ging es zur Christmesse in die Kirche. Die war eiskalt – wir waren schließlich evangelisch. Der Pfarrer schrie von der Kanzel, bis ihm Schaum vor dem Mund stand. Dazwischen Singen, Beten, Maulhalten – die Tortur dauerte an die drei Stunden.

Wieder daheim warteten wir in der Stiefkinderzelle, bis uns das Heulen der Weihnachtssirene ins Wohnzimmer rief. Dort brannte der Baum bereits lichterloh. Wir stellten uns der Größe nach auf. Dann musizierten meine Stiefbrüder Ulrich-Peter, Ulrich-Mühe und Horst-Ulrich sowie meine Stiefschwestern Marionette, Raute und Hirntrud auf Arschgeige, Backpfeife und Maulschelle. Mir als Jüngstem war kein Musikinstrument zugeteilt. Stattdessen musste ich ein hundertseitiges Gedicht auf Altaramäisch vortragen.

Die Serie

NSU war damals eine angesehene Automarke in einem grauen Land, in dem der Weiße Riese und schwarze Pädagogik herrschten. Die Serie über eine Kindheit in der Westzone zwischen Umweltverschmutzung, Pellkartoffeln und Kaltem Krieg

Wer sich versprach oder verspielte, den erwartete zur Strafe die Bescherung. Jemand hämmerte draußen mit beiden Fäusten gegen die Wohnungstür, Stiefvater öffnete und ein Gigant mit schwarzer Henkerskapuze stürmte herein. „Nun bekommt ihr eure Geschenke“, drohte der Weihnachtsmann mit Stiefgroßonkel Molfsees Stimme.

Wir duckten uns furchtsam, da wir schon wussten, was nun kam: Er griff in den Sack, holte eine Stahlrute hervor und ließ sie auf unseren kleinen Leibern tanzen wie einen Derwisch. „Wunschzettel, Arschlecken, hier habt ihr euren Denkzettel, ihr vermaledeiten Stiefkröten“, dröhnte der Heilige und alle lachten.

Bevor wir mit unseren neuen Striemen spielen durften, gab es noch das Weihnachtsessen: Wasser und Brot für uns Stiefkinder, während sich die Stieferwachsenen an einem Hasen delektierten. Stiefvater hatte den halb verhungerten und erfrorenen Nager mit seinem VW Volkssturm von der Landstraße gefegt, obwohl er sich längst ergeben hatte. Dazu gab es Pellkartoffeln.

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Uli Hannemann
Seit 2001 freier Schreibmann für verschiedene Ressorts. Mitglied der Berliner Lesebühne "LSD - Liebe statt Drogen" und Autor zahlreicher Bücher.
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