taz-Chefin über Bundestagswahl: Wenn ich Bundeskanzlerin wäre …
Man muss Lust darauf haben, mächtig zu sein. Trotz Stress sollte man durchlässig bleiben für große Fragen und kleine Schönheiten des Lebens.
E in kleines Geheimnis zum Einstieg: Ich war so um die elf Jahre alt, als ich zum ersten Mal über Politik nachdachte und darüber, was ich wohl tun würde, wenn ich Bundeskanzler wäre. Das war 1978, die weibliche Form der Amtsbezeichnung undenkbar – und in meiner noch ungeformten Genderidentität ging auch Kanzler.
Meine Gedanken waren frisch und unverstellt. Und da ich in Mutlangen und somit auf dem Lande aufwuchs, schwäbisch bodenständig. Entsprechend gradlinig waren meine Pläne. Mir war schon klar, dass ich zur Erreichung dieses Vorhabens erst mal eine Partei gründen musste. Und wenn schon, dann meine eigene. Sehr zum Verdruss meiner Eltern schrieb ich auf den neuen, hellschweinsledernen Schulranzen mit schwarzem Edding und oval umkringelt: IPD. „Ines Pohl für Deutschland“ sollte das heißen. (Keine Erinnerungszensur.)
Diese Pläne verflüchtigten sich schneller als die Eddingspuren. Auf die Rückseite des Ranzens klebte ich bunte Prilblumen, immer wieder neue, denn die neue Tasche musste, wie alles damals, einige Jahre halten.
Heute nun also die konkrete Frage vom Ende her gedacht: Was würde ich tun, wenn ich Bundeskanzlerin wäre?
Das politische Geschäft ist brutal
Ich berichte seit fast 20 Jahren über Politik und über jene, die politische Ämter ausfüllen. Am Anfang über Ortsbürgermeister, dann Bundestagsabgeordnete, später Parteivorsitzende und Bundestagspräsidenten.
Ich glaube, wenn ich Bundeskanzlerin wäre, würde ich vor allem eines tun: Mir ein Umfeld schaffen, das meinen Horizont offen hält. Das mich fordert, meine Gewissheiten und die meines spezifischen Milieus infrage stellt. Ich würde hoffen, Männer und Frauen als Berater zu finden, die meine Politik bis ins Mark kritisieren, Ungereimtheiten ansprechen, Trugschlüsse und billige Ausflüchte aufdecken. Und ich würde hoffen, dass ich genügend Liebe und Freundschaft in meinem Leben hätte, um stark genug zu sein, diese Kritik auszuhalten.
Das politische Geschäft ist brutal. Und das politische Amt formt wie kaum ein anderes die Menschen, die es ausfüllen. Je bedeutsamer der Posten, desto gnadenloser die öffentliche Aufmerksamkeit. Es macht ja was mit den Betroffenen, dass inzwischen ein jeder – auch anonym – über Twitter in Sekundenschnelle Lügen und Spott über einen verbreiten kann.
Lust darauf, mächtig zu sein
Es ist sicher richtig, dass sich nur bestimmte Menschentypen dafür entscheiden, politische Spitzenämter auszufüllen. Denn man muss schon Lust darauf haben, mächtig zu sein. Warum sonst sollte man sich diese langen Tage mit wenig Schlaf antun? Den Dauerstress, die permanente hektische Beanspruchung, wenig Urlaub, kaum Freizeit.
Auch wenn es sicher immer auch Überzeugungen sind, die die Leute antreiben, habe ich noch nie an reinen Altruismus geglaubt. Auch finde ich es überhaupt nicht verwerflich, danach zu streben, Macht zu haben, um die Gesellschaft mit zu gestalten und Gemeinschaften zu prägen. Aber die Gefahr ist groß, dass bei denen, die oben ankommen – und oben bleiben – die Haut so dick geworden ist, dass nichts mehr durchdringen kann, was die eigenen Gewissheiten infrage stellt. Wenn ich also Bundeskanzlerin wäre, dann würde ich alles daransetzen, um porös zu bleiben, durchlässig für die großen Fragen und die kleinen Schönheiten des Lebens.
PS: Das mit der Partei wurde damals nichts. Darüber bin ich heute sehr froh.
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